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Die Frau des Praesidenten - Roman

Die Frau des Praesidenten - Roman

Titel: Die Frau des Praesidenten - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Elisabeth Curtis Sittenfeld
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Der Tenor dieser Artikel ist stets der gleiche: wie bizarr, wie interessant, geradezu unmöglich. Wie kann so was nur passieren! Für mich klingen derartige Geschichten ganz und gar nicht interessant, und auch nicht unwahrscheinlich.
     
    Weder ich noch meine Eltern waren auf seiner Beerdigung. Ich blieb eine Woche lang zu Hause, und als ich anschließend wieder in die Schule ging, blieben sowohl freundliche als auch unfreundliche Reaktionen größtenteils aus. Der
Riley Citizen
hatte auf der Titelseite über Andrews Tod berichtet, doch damals wusste ich nichts davon – meine Eltern hielten den Artikel vor mir versteckt. Erst viele Jahre später zwangen mich äußere Umstände dazu, ihn zu lesen. Eine offizielle Verabschiedung vonseiten der Schule fand nicht statt, auch nicht in meiner Abwesenheit, doch nach meinem Abschluss im darauffolgenden Frühjahr erfuhr ich, dass man Andrew das Jahrbuch gewidmet hatte. Aber selbst hier verhielt man sich zurückhaltend, erinnerte lediglich auf einer Seite mit den WortenIN MEMORIAM an ihn, darunter ein Foto und seine Lebensdaten: ANDREW CHRISTOPHER IMHOF, 1946–1963. Von Mrs. Schaub, meiner Englischlehrerin in der zehnten Klasse, erhielt ich eine Karte mit einem Sonett von Shakespeare, dessen erste Zeilen lauteten: »Die Zeit des Jahres magst in mir du sehn, / Wenn spärlich letzte gelbe Blätter fallen«, doch was mir das sagen sollte, verstand ich nicht genau. Es wollte mir nicht gelingen, Mrs. Schaubs Nachricht in Ruhe durchzulesen, ich überflog sie lediglich, las die Worte »eine sehr schwierige Zeit für Dich«, die dort blau und in geschwungener Schreibstift standen, in derselben Handschrift, in der sie meine Aufsätze über
Beowulf
und die
Canterbury-Tales
gelobt hatte. Das war es, was ich noch immer wollte: wie ein normaler Schüler behandelt werden, normal
sein
– nicht diese übertrieben wohlwollende Haltung, die verstohlenen, neugierigen Blicke meiner Mitschüler oder die unverhüllte Feindseligkeit, wenngleich mir diese nur selten begegnete. Als ich am zweiten Tag nach meiner Rückkehr an die Schule auf dem Flur an Karl Ciesla, einem Jungen aus Andrews ehemaligem Footballteam, vorbeilief, zischte er mir zu: »Nicht ohne Grund sollten Mädchen keinen Führerschein machen.«
    Im Allgemeinen umgab mich jedoch eine Aura, die einer Nebelwand aus Betäubung und Scham glich und mich sowohl bemitleidenswert als auch unnahbar machte. Wahrscheinlich war das der Grund, weshalb außer Karl fast niemand seinem Ärger Luft machte, obwohl einige mit Sicherheit wütend auf mich waren. Außerdem kam mir mein Ruf als braves, freundliches Mädchen zugute. Während der Woche, in der ich zu Hause geblieben war, hatte ich einmal am Küchentisch gesessen und versucht, ein Thunfischsandwich zu essen, das meine Mutter mir zum Mittagessen gemacht hatte, als mir plötzlich ein schrecklicher Gedanke durch den Kopf schoss: Was, wenn die anderen dachten, ich hätte es mit Absicht getan? Dass ich ihn, auf völlig verrückte Art, für mich allein hatte haben wollen oder er mir eine Abfuhr erteilt hatte und ich auf Rache aus gewesen war? Doch niemand schien so etwas zu denken, zumindest warf es mir keiner vor – im Grunde gab es zwischenAndrew und mir, außer, dass wir in die gleiche Klasse gingen, keine offenkundige Verbindung.
    Es sagte tatsächlich so gut wie niemand etwas zu mir, und keiner, noch nicht einmal meine Großmutter, die Freud und Jung las, legte mir nahe, einen Psychologen aufzusuchen. Am Sonntagmorgen nach dem Unfall hatte meine Mutter an meine Tür geklopft und gesagt: »Daddy denkt, es ist in Ordnung, wenn du heute nicht in die Kirche gehst. Aber wir zwei wollen für Andrew beten, nur du und ich.« Ich ließ sie das Gebet sprechen (der Schorf an meinem linken Ellbogen tat weh, als ich den Arm beugte), doch als ich keinen Trost in ihren Worten fand, sah ich das als ein erstes Zeichen, dass ich im Begriff war, meinen Glauben zu verlieren. Am nächsten Abend kam mein Vater in mein Zimmer und sagte: »Ich war bei Mr. Imhof, und es werden keine rechtlichen Schritte gegen dich eingeleitet, weder von ihnen noch vom Bezirk. Mr. Imhof ist ein ehrbarer Mann. Wir können uns glücklich schätzen.« Ich saß an meinem Schreibtisch, und mein Vater klopfte mir steif auf die Schulter. Die Neuigkeit erfüllte mich weniger mit Dankbarkeit, als es mich vielmehr erschreckte zu erfahren, dass mir rechtliche Schritte hätten drohen können. Die ganze Sache machte mich fassungslos.
    Das war alles,

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