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Die Frau des Praesidenten - Roman

Die Frau des Praesidenten - Roman

Titel: Die Frau des Praesidenten - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Elisabeth Curtis Sittenfeld
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was meine Eltern bezüglich des Unfalls je zu mir sagten. Ganz Riley, einschließlich meiner eigenen Familie, schien sich darin einig zu sein, dass es das Beste war, es in meiner Gegenwart einfach nicht zu erwähnen.
     
    Nur eine Person sprach mich direkt darauf an. Am Ende meines ersten Tages wieder an der Schule wartete Dena an meinem Spind auf mich. Unsicher, was mich erwartete, blieb ich einige Meter vor ihr stehen.
    »Es tut mir so leid, dass du wegen mir allein zu der Party gefahren bist«, sagte sie und brach in Tränen aus.
    »Dena …« Wir liefen aufeinander zu, fielen uns in die Arme, klammerten uns aneinander, und ihre Tränen tropften in meinen Nacken und auf meine Bluse.
    »Ich weiß, dass er dich lieber mochte als mich«, sagte sieweinend. »Er hat dich immer lieber gemocht, und wenn du mit Nancy und mir gefahren wärst, wäre das nie passiert.«
    Ich trat einen Schritt zurück, so dass ich sie ansehen konnte; ihr Gesicht war gerötet und fleckig. »Es ist nicht deine Schuld«, sagte ich. Tief im Inneren hatte ich schon selbst darüber nachgedacht und Dena von jeglicher Schuld freigesprochen. Was auch immer dazu geführt hatte, dass ich in diesem Moment in dem Auto gesessen hatte, ich war diejenige, die das Stoppschild übersehen hatte.
    »Ich kann ihn mir einfach nicht so vorstellen, du weißt schon« – sie machte eine Pause, dann flüsterte sie –, »
tot.
«
    Augenblicklich tauchte sein Bild vor mir auf, dieser seltsame Winkel, in dem sein Kopf, das Gesicht verborgen, herabhing. Warum war ich nicht zu ihm gelaufen? Warum war ich nicht durch das Beifahrerfenster und über den Sitz geklettert und hatte meine Arme um ihn geschlungen, als er zwischen all dem kaputten Glas und Metall so alleine dagesessen hatte? Ich habe mich in den folgenden Monaten und Jahren auf vielerlei Art gequält und mir dabei immer wieder eine Frage gestellt: Hat er zu diesem Zeitpunkt noch gelebt, und wenn ja, hätte er durch menschliche Berührung, durch meine Berührung, gerettet werden können? Heute denke ich jedoch nicht mehr so. Wäre ich in den Wagen geklettert und er wäre trotzdem gestorben, hätte ich wiederum das für einen Fehler gehalten.
    Zu Dena sagte ich: »Sind die anderen wütend auf mich?«
    »Robert ist der Meinung, deine Familie sollte von hier wegziehen, aber er ist ein Idiot. Ich hab ihm gesagt, er solle selbst wegziehen.«
    Robert war der Meinung, meine Familie sollte wegziehen? Er hatte im vergangenen Frühjahr seinen Abschluss gemacht und arbeitete jetzt bei White River Dairy.
    »Was sagen sie sonst noch?«, fragte ich.
    Dena schniefte. »Du hast nicht vielleicht ein Taschentuch, oder?«
    Ich hatte eins, holte es aus meiner Tasche und gab es ihr.
    Nachdem sie sich die Nase geputzt hatte, sagte sie: »Als ich es erfahren habe, dachte ich, die Polizei wird kommen undmich verhaften. Ich hatte solche Angst, dass ich Marjorie zwang, bei mir im Bett zu schlafen.«
    »Ich habe nie jemanden von unserem Streit erzählt«, beruhigte ich sie. »Dena, wirklich, das ist nicht der Grund, weshalb es passiert ist.«
    Sie biss sich auf die Unterlippe, um weitere Tränen zu unterdrücken. »Ich hätte einfach nicht versuchen dürfen, euch beide auseinanderzuhalten«, sagte sie. »Aber ich dachte, ich könnte es sowieso nicht, und nur deshalb habe ich es überhaupt probiert.«
     
    Von da an begleitete ich meine Eltern und Großmutter nicht mehr in die Kirche. Den Sonntag nach dem Unfall war ich im Bett geblieben, und den darauffolgenden auch, und danach schienen sie keine weiteren Kirchgänge mehr von mir zu erwarten. Vielleicht, und der Gedanke schmerzte, war es für sie einfacher, ohne mich zu gehen. Die anderen Gemeindemitglieder würden nicht zu ihnen hinüberstarren, und wenn doch, dann weniger neugierig. Am letzten Sonntag im September wartete ich, bis meine Eltern und meine Großmutter gegangen waren, nahm den Brief, den ich bereits zugeklebt hatte, aus meiner Schreibtischschublade und verließ das Haus. Ich hatte mich seit dem Unfall nicht mehr hinter das Steuer eines Wagens gesetzt, und diesen Wagen war ich noch nie gefahren – es war ein neueres Modell unseres Chevy Bel Air in einer anderen Farbe. Mein Vater hatte ihn in der Woche nach dem Unfall gekauft, und als er damit nach Hause gekommen war, hatte ich meine Mutter entsetzt ausrufen hören: »Schwarz, Phillip?«, und mein Vater hatte müde zurückgegeben: »Dorothy, ich habe das genommen, was sie dahatten.«
    Es war ein kühler, grauer Herbstmorgen.

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