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Die Frau des Praesidenten - Roman

Die Frau des Praesidenten - Roman

Titel: Die Frau des Praesidenten - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Elisabeth Curtis Sittenfeld
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Himmel sei Dank, dir ist nichts passiert.«
    In einem mir bis dahin unbekannt schroffen Ton sagte meine Mutter: »Emilie, wir sollten ins Haus gehen.«
    Meine Großmutter folgte uns nach drinnen. »Ich nehme an, das Auto ist hin?« Ich nahm am Rande wahr, wie meine Mutter den Kopf schüttelte:
Hör auf zu fragen
. Erst dann bemerkte ich, dass Mrs. Falke noch da war. Sie saß rauchend am Kartentisch und sagte: »Alice, du hast uns in Angst und Schrecken versetzt. Nun sag, was hast du mit deinem Arm gemacht?«, woraufhin meine Mutter sagte: »Geh nach oben, Alice.«
    Ich schaute weder meine Großmutter noch Mrs. Falke an, als ich den Raum verließ. Nachdem mir das Librium verabreicht worden war, hatte ich aufgehört zu weinen, aber meine Kehle fühlte sich wund an, meine Augen waren wie entzündet, die Wangen geschwollen. Jahrzehnte später erzählte ich einmal einer viele Jahre jüngeren Freundin, Jessica, von der Nacht, in der ich mit Andrew Imhofs Wagen zusammenprallte. Ich hatte bis dahin mit kaum jemandem darüber gesprochen, aber Jessica und ich waren sehr vertraut und der Jahrestag des Unfalls stand bevor, eine stets schwierige Zeit. Jessica konnte nicht fassen, dass ich aus dem Krankenhaus nach Hause gekommen unddirekt in mein Zimmer geschickt worden war, dass meine Eltern und Großmutter mich allein gelassen hatten. Doch es waren andere Zeiten damals, man sprach so viel weniger über seine Gefühle, und es traf uns so völlig unvorbereitet. Für den Umgang mit einem solchen Unglück gab es kein Patentrezept.
    Ich betrat mein Zimmer, ohne das Licht anzuschalten, zog die Schuhe aus und legte mich in Rock und Bluse unter die Decke (die Strickjacke sah ich nie wieder – ich muss sie im Wagen gelassen haben). Es war unvorstellbar: Konnte ich wirklich für den Tod eines anderen Menschen verantwortlich sein? Und der Mensch, dessen Tod ich zu verantworten hatte, war Andrew, Andrew Imhof war meinetwegen gestorben? Es gab Dinge, die mir Sorgen bereiteten, Klassenarbeiten, Prüfungen oder die angespannte Situation mit meiner Großmutter und manchmal, wenn ich darüber nachdachte, ein Angriff Chruschtschows auf die Vereinigten Staaten. Doch das hier? Das war in jeder Hinsicht vollkommen unvorstellbar.
    Und ich dachte,
Andrew
. Sein Lächeln und seine Wimpern, seine haselnussbraunen Augen und seine sonnengebräunten Waden, mein Kopf an seiner Brust vergangenes Frühjahr beim Abschlussball. Er hatte mich immer gemocht, hatte es nie verborgen – die Jahre mit Dena zählten nicht wirklich, aber warum hatte ich so getan, als hätten sie es doch getan? –, und ich hatte seine Anerkennung gespürt. Ein Mensch respektierte einen anderen oder nicht, aber das war nicht gleichbedeutend damit, ihn zu kennen. Jemanden zu kennen, konnte bedeuten, lediglich dessen Name, Adresse oder den Beruf des Vaters zu wissen. Respekt bedeutete, den anderen als denkendes Wesen anzuerkennen, die gleichen Dinge lustig zu finden oder abzulehnen, sich daran zu erinnern, was man vor Monaten, gar Jahren gesagt hat. Andrew war immer nett zu mir gewesen, hatte mich immer beachtet. Von wem außer von meinen engsten Familienmitgliedern konnte ich das behaupten?
    Warum also hatte ich gezögert, hatte Andrew, der mir seit unserer Kindheit, lange bevor Dena ihre Ansprüche auf ihn anmeldete, Aufmerksamkeit und Zuneigung geschenkt hatte, auf Abstand gehalten? Ich
hatte
ihn auf Abstand gehalten, daswusste ich nun und hatte es bereits gewusst, während ich es tat. Ich war passiv und widersprüchlich gewesen, hatte gedacht, wir hätten unendlich viel Zeit. Wäre er früher mein Freund geworden, wären wir zusammen zu der Party gefahren; ich hätte nicht allein in dem Wagen gesessen.
    Das Verwirrende, Unerträgliche war die doppelte Schwere des Unglücks. Wäre Andrew bei einem Autounfall ums Leben gekommen, an dem ich nicht beteiligt gewesen wäre, hätte mich der Verlust ebenso schwer getroffen. Hätte ich den Wagen einer mir unbekannten Person gerammt und diese wäre gestorben, wäre auch das niederschmetternd gewesen. Doch beides – beides auf einmal war unerträglich. Er war von mir gegangen,
und
ich trug die Schuld daran. Heute stoße ich in Zeitschriften oder der Zeitung immer mal wieder auf Berichte, in denen von ähnlich unwahrscheinlichen Unglücksfällen erzählt wird: Zwei Brüder sterben am gleichen Abend auf der gleichen Straße bei zwei verschiedenen Motorradunfällen. Ein Ehepaar, jeder in seinem eigenen Wagen unterwegs, stößt frontal zusammen.

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