Die Frau des Ratsherrn: Historischer Roman (German Edition)
zu sehen war, das er so liebte. Lang, weich und hellblond fiel es ihr über die Schultern bis hin zur Hüfte. Durch die Flechten, die sie immer trug, wenn sie ihr Haar unter der Haube verbarg, war es leicht gewellt. Runas Augen waren groß und rund, und ihre dichten, geraden Brauen bildeten einen starken farblichen Kontrast zu ihrem hellen Haupt. Immer wenn sie lächelte, entblößte sie eine Reihe schöner Zähne, von denen der rechte Schneidezahn ein Stück hervorschaute.
Johann liebte, was er sah, und am liebsten hätte er es nie wieder hergegeben; doch er musste gehen.
»Noch heute werde ich die Stadt verlassen und nach Lübeck reisen. Wir werden uns also eine Weile nicht sehen können, Liebste.« Johann wusste selbst, wie grotesk das klang. Vor kurzer Zeit noch hatten sie darüber gesprochen, sich nie mehr wiederzusehen, und nun versuchte er das zu überspielen, indem er so tat, als hätte es diesen Gedanken niemals gegeben.
Doch auch Runa war wohl gewillt, die Stimme der Vernunft zu übergehen, und ignorierte diese Tatsache ebenso. »Warum musst du nach Lübeck?«
Während Johann seine Kleider ordnete, gab er Runa Antwort. »Ich werde in Zukunft häufiger hin und her reisen müssen. Die Handelsbeziehungen zwischen Hamburg und Lübeck werden mehr und mehr durch Überfälle der Dithmarscher auf hamburgische Schiffe gestört. Es muss eine Lösung für dieses Problem gefunden werden.«
Runa, die sich an frühere Gespräche zu diesem Thema erinnerte, fragte neugierig nach. »Gab es nicht bereits eine Vereinbarung, die diesen Umstand regeln sollte?«
»Ja, es gab sogar zwei. Doch die streitbaren Dithmarscher ignorieren die Abkommen und berauben die Schiffe einfach weiter. Es wird wohl noch einige Zeit brauchen, bis die Verhandlungen zu einem Ergebnis führen. Darum werde ich wohl noch einige Male dorthin reisen und auf dein liebliches Gesicht leider eine Zeit verzichten müssen.«
Runa lächelte. Ständig machte er ihr Komplimente; und das trotz der wenig kleidhaften Beginentracht. Allein dafür musste sie diesen Mann lieben. Doch zugleich liebte sie ihn, weil er sie ebenbürtig behandelte. Er redete ganz selbstverständlich mit ihr über seine Arbeit und behandelte sie nicht bloß wie ein dummes Weib. Sie war immer wieder verblüfft, wenn er von seiner Tätigkeit als Ratsnotar erzählte, denn für sie war er einfach nur Johann; kein Edelmann oder Geistlicher. Hätte er nicht regelmäßig etwas von seiner Arbeit erzählt, dann liefe sie wohl Gefahr, eines Tages womöglich glatt zu vergessen, dass er einer der bedeutendsten Männer der Stadt war. Sie musste es sich immer wieder ins Gedächtnis rufen, dass er tagtäglich überaus wichtige Entscheidungen traf, die das Leben der Städter maßgeblich beeinflussten. Schon häufig hatte Runa sich gefragt, ob ihre Vergesslichkeit in diesem Punkt vielleicht auch ein bisschen an diesem wenig prunkvollen Ort lag. Selbstverständlich hatten sie sich noch nie irgendwo anders treffen können als in dem kleinen, schiefen Häuschen. Sie sah ihn weder im Rathaus noch in Gesellschaft feiner Leute. Alles, was ihn außerhalb dieser geheimen Stätte ausmachte, ließ er unweigerlich draußen. Hier, in dieser kleinen Stube, gab es nur sie und ihn – Runa und Johann.
»Ich werde dich vermissen«, waren ihre letzten Worte, bevor er ihr Kinn noch einmal mit den Fingern hochschob und sie zum Abschied zärtlich küsste.
Kurz nach Johanns Abreise war es Runa klar geworden. Die Erkenntnis traf sie wie ein Blitz. Schnell und ohne Vorwarnung; und sie hinterließ ein Trümmerfeld.
Wie hatte sie die Tatsachen so lange ignorieren können? Die Übelkeit, die Unverträglichkeit von gewissen Speisen, die düstere Vorahnung, dass ihre Liebschaft mit Johann kein gutes Ende nehmen konnte. Runa war schwanger!
Wenn auch noch nichts von ihrem Bauch zu sehen war, hatte sie dennoch keinen Zweifel daran, tatsächlich ein Kind zu erwarten. Seit dieser Einsicht waren ihre Tage mit unzähligen Ängsten bestückt.
Was sollte aus ihr werden? Eine schwangere Beginen-Schwester hatte von niemandem Hilfe zu erwarten. Ganz im Gegenteil. Sollte jemand Runas Zustand bemerken, würde sie harte Strafen zu erwarten haben – wenn nicht sogar den Tod.
Einen kurzen Moment lang hatte Runa sogar überlegt, es Johann zu sagen. Sie wollte sich der Vorstellung hingeben, dass er sich möglicherweise darüber freuen würde oder vielleicht sogar eine Lösung wusste. Schnell jedoch wurde Runa klar, wie töricht ihr Wunsch
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