Die Frau des Ratsherrn: Historischer Roman (German Edition)
möglicherweise war heute ein guter Tag dafür, um diese Regel zu brechen. »Nun, bei mir war es anders als bei Kristine. Mir fiel es keineswegs schwer, von Conrad und Luburgis getrennt zu sein, die ja damals meine Eltern waren.«
Mit einer solch harten Antwort hatte Johann nicht gerechnet. »Hast du es denn niemals vermisst, frei zu sein in deinen Entscheidungen, wie es innerhalb einer Familie der Fall ist, und gehen zu können, wohin es dir beliebte? Die Umstellung auf das Leben einer Begine muss doch ungewohnt für dich gewesen sein.«
»Freiheit?«, fragte Runa verwundert zurück. »Ich bin freier hier hinter den Mauern des Klosters, als ich es ab meinem vierten Lebensjahr jemals im Haus in der Reichenstraße war.«
Runa spürte Johanns Betroffenheit und redete weiter, um zu erklären. »Es mag für dich merkwürdig klingen, aber gleich wirst du es verstehen. Vielleicht erinnerst du dich noch daran, dass mein Vater vor vierzehn Jahren nach Flandern aufbrach und nach über vier Monaten plötzlich wieder auftauchte, obwohl man ihn totgesagt hatte? Damals ist der langjährige Streit zwischen meinem Vater und meinem Onkel endgültig entbrannt. Dieser Streit währt auf seine Weise bis heute und hat mein Leben total verändert.«
»Ja, ich erinnere mich gut an diese Zeit«, gab Johann mit einem grübelnden Gesicht zurück. »Damals hatte ich mein Amt als Ratsnotar gerade erst erhalten, da Magister Jordan von Boizenburg gestorben war. Die Streitfragen um deine Familie zählten zu den ersten Ratssitzungen, die ich als Ratsnotar miterlebt habe. Nachdem dein Vater fort war, galt es zu klären, ob deine Mutter erneut heiraten dürfe, solange der Tod deines Vaters nicht zweifelsfrei bewiesen war. Dann geschah ihr furchtbarer Selbstmordversuch, woraufhin der Rat die Entscheidung fällte, sie vorerst in das Kloster zu verweisen. Es muss eine aufwühlende Zeit für deine Familie gewesen sein, aber all das ist sehr lange her, mein Herz, und heute ist alles anders.«
»So ist es, mein Liebster. Es ist lange her, und ich selbst war in der Tat noch viel zu klein und konnte viele Dinge nicht verstehen. Aber ich glaube, du vergisst, dass in diesen Tagen auch mein Schicksal geschrieben wurde. Auch ich war von den Entscheidungen des Rates betroffen, und sie waren nicht gerade zu meinem Vorteil.«
Jordan stutzte. Einen kurzen Moment lang versuchte er sich in das kleine Mädchen von damals hineinzuversetzen. Plötzlich verstand er, dass seine Sichtweise auf die Ereignisse sich grundlegend von Runas unterschied. Mit den Augen eines Mannes, der es gewohnt war, Entscheidungen zu treffen, hatte er den Fall zu dieser Zeit kühl von außen betrachtet. Als Ratsnotar war er damals dafür verantwortlich gewesen, mit den anderen hohen Herren über das Schicksal der Beteiligten zu entscheiden. In der festen Überzeugung, das Richtige zu tun, hatte er dafür gesorgt, dass Ragnhild ins Kloster geschickt wurde, und gleichzeitig veranlasst, dass Runa und ihre Brüder Conrad und Luburgis zugesprochen wurden. Runa hatte zu dieser Zeit nicht nur ihren Vater, sondern auch ihre Mutter verloren, und ihre Stiefeltern waren ein schlechter Ersatz. »Es ist dir nicht gut ergangen bei Conrad und Luburgis von Holdenstede, oder?«
»Nein, ganz und gar nicht«, bestätigte Runa tonlos. Doch so schwer es ihr auch fiel, über die Vergangenheit zu sprechen, der Anfang war gemacht. An diesem Abend öffnete sie ihrem Geliebten den Blick zu einer weitreichenderen Sicht der Dinge. Sie erzählte ihm die Geschichten, die ihre Mutter ihr erzählt hatte, als sie ihre Tochter zum ersten Mal im Kloster besuchen kam. Damals hatte Ragnhild versucht, das Vertrauen Runas zurückzugewinnen, indem sie ihr die ganze Wahrheit über ihre gemeinsame Vergangenheit beichtete. Nun gab Runa ihr Wissen zum ersten Mal weiter.
»Das ganze Leid der letzten Jahre hat seinen Anfang mit Großvaters Testament genommen. Mein Vater sollte Buße tun, weil er Ingrid von Horborg verschmäht und dafür meine Mutter geheiratet hatte. Aber mein Onkel hat Großvaters Worte zu genau genommen und meine Eltern unterdrückt, wo er nur konnte. Selbst als Vater nicht aus Flandern heimkehrte, konnte er seinen Hass nicht zügeln. Nicht einmal das Trauerjahr wollte er Mutter lassen. Es ist nicht verwunderlich, dass sie sterben wollte. Jetzt, da ich selbst liebe, kann ich ihren Schmerz verstehen.« Runa schmiegte sich noch enger an Johann, während sie sprach. Bei diesen traurigen Geschichten wollte sie ihm
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