Die Frau des Ratsherrn: Historischer Roman (German Edition)
hätte er keine Skrupel gehabt, sich die Einzelheiten seiner Geschichte frei zu erdenken, um sich Gehör zu verschaffen, doch dieses Mal entsprachen sie sogar der Wahrheit.
Hilda hatte genug gehört. Sie spürte, dass der Fremde nun nichts mehr zu erzählen hatte. Die Magd wusste zwar nicht, ob sie alles glauben konnte, was der Mann erzählt hatte, doch auch die halbe Wahrheit war schon schlimm genug. Mit bangem Herzen brachte Hilda ihre aufgelöste Freundin zurück in die Reichenstraße, wo Marga mit Runa auf dem Arm schon auf die Frauen wartete.
Von ihr erfuhren sie, dass auch die anderen von Holdenstedes bereits Bescheid wussten. Zwar war es Marga unbegreiflich, wie die Familie so schnell von den Neuigkeiten hatte erfahren können, doch das war nun auch unbedeutend.
Das ganze Haus war in heller Aufregung. Conrad zeigte sich ungewohnt verständnisvoll – sei es wegen des möglichen Verlusts seines Bruders oder seiner Waren. Er befahl Hilda, Ragnhild in ihre Kammer zu begleiten, während er sich aufmachte, um selbst Erkundigungen einzuholen.
Nach einer Woche der Ungewissheit drangen erneut bruchstückhafte Neuigkeiten über das Unglück nach Hamburg. Die Geschichten wurden von immer neuen Händlern bestätigt, bis eines Tages die schreckliche Vermutung zur Gewissheit wurde.
Aufgeschwemmte Leichen waren an die Strände gespült und die Nachricht ihres Todes bis nach Hamburg getragen worden. Zwei Männer und einen Jungen hatte das Eis der Nordsee freigegeben. Tage später noch eine Leiche und dann noch eine. Alle mit dunklem Haar, alle blau gefroren und bis zur Unkenntlichkeit deformiert.
Zusammen mit den Körpern wurden Gegenstände angespült, die den Verdacht erhärteten, es könnte sich um die Resens handeln. Doch eine ganze Zeit lang blieb der endgültige Beweis aus. Bis zu dem Tage, als ein Händler die Schiffsherrnmütze von Arnoldus Zalghe mitbrachte, hatten die Hamburger noch Hoffnung gehabt. Doch als einige von ihnen das altertümliche Modell als das von Arnoldus erkannten und die eingestickten Initialen im Inneren der Mütze dies nochmals bestätigten, stand es fest.
Jedes Hoffen darum, dass Albert nicht unter den geborgenen Leichen war, wurde von den Ereignissen verhöhnt. Es gab keinen Zweifel mehr. Keinen Grund mehr für Ragnhild zu flehen. Ihr geliebter Mann und Vater ihrer drei Kinder war tot; und sie endgültig allein!
11
Die ersten Tage ließ man Ragnhild in Ruhe. Man ließ sie trauern. Schwarz gewandet und mit rot geweinten Augen lebte sie in einer ihr plötzlich fremd gewordenen Welt.
So musste die Hölle sein, dachte Ragnhild. Leer und ohne Gefühl; genau wie sie selbst. Es wurde von ihr erwartet, etliche Seelenmessen für Albert in Auftrag zu geben und auch selbst stundenlang zu beten; doch sie wusste nicht, zu wem. Ihr ohnehin schon schwacher Glaube hatte sich in ein Nichts verwandelt. Der Gang zur Kirche kam ihr unnützer und zugleich heuchlerischer vor als je zuvor. Was sollte sie hier? Diese nackten Gemäuer, die ungastliche Kälte, kein Trost, keine Wärme. Sie war leer. Unberührt erfüllte sie die Erwartungen ihrer Mitmenschen. Zwangsläufig sprach sie ihre Gebete, doch nichts vermochte ihre Trauer zu lindern.
Wie so oft in den letzten Tagen kniete sie auch heute wieder allein auf dem kalten Boden der Petrikirche. Die Hände gefaltet, doch den Blick auf den Altar gerichtet. Keine Demut war in ihren Augen zu erkennen, kein Flehen um Alberts Seelenheil. Die Tränen rannen ihr lautlos das Gesicht hinunter und bildeten nasse Streifen auf ihrem Kleid.
Sie dachte an sein Haar, seinen Geruch, seine Küsse; und sie fühlte keine Scham wegen der heiligen Stätte, an der sie diese Gedanken hegte. Nie wieder würde er sie berühren, nie wieder würde sie seine Stimme hören. Sie wusste genau, nie wieder würde sie einen anderen Mann lieben können.
Als es keinen Sinn mehr für sie machte, weiter in der Kirche zu knien, beschloss sie zu gehen. Hier fand sie ja doch keinen Trost. Langsam stand sie auf. Den Blick noch immer auf den Altar gerichtet und die Lippen noch immer versiegelt. Doch plötzliche Schritte hinter ihr holten sie aus ihrer Starre und ließen sie den Blick schnell senken. Ragnhild verspürte wenig Lust, sich mit irgendwem zu unterhalten, und wollte sich unbemerkt aus der Kirche schleichen. Doch als sie sich umdrehte, stand Vater Lambert vor ihr. Mit ernster Miene starrte er in ihr vor Kummer eingefallenes Gesicht.
Vor Alberts Tot hatte er ihr regelmäßig Ehrfurcht
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