Die Frau des Ratsherrn: Historischer Roman (German Edition)
eingeflößt, doch nun löste er nichts mehr in ihr aus. Sie sah ihn mit unbeteiligtem Blick direkt in die Augen.
Der stets grimmige Geistliche, der nur nach einem Grund suchte, sie zu tadeln, fühlte sich sofort provoziert. »Senke gefälligst den Blick, verdorbenes Weib.«
Ragnhild tat, wie ihr geheißen, und knickste vor ihm. Sie wollte nur ihre Ruhe und versuchte sich an ihm vorbeizudrängen. Doch der Pfarrvikar hob blitzschnell die Hand und stieß sie grob zurück.
Durch die Kälte in der Kirche steif geworden, konnte sie sich nicht rechtzeitig fangen. Sie stolperte und fiel schmerzvoll hin. Ihr Körper verspannte sich. Ragnhild spürte seine bedrohliche Haltung und wurde sich schlagartig ihrer Wehrlosigkeit bewusst. Hölzern setzte sie sich auf, wagte aber nicht, ihm noch einmal ins Gesicht zu blicken. Bevor er zu sprechen begann, konnte sie seinen schnaufenden, feindseligen Atem hören.
Speichel speiend und mit ausgestrecktem Zeigefinger schleuderte er ihr seine Drohung, erst leise und dann immer lauter werdend, entgegen. »Du glaubst wohl, ich durchschaue dich nicht. Du denkst tatsächlich, dass du klüger bist als ich. Doch ich sehe dein wahres Gesicht. Es ist hässlich und falsch, wie das der Schlange. Denke ja nicht, dass du mich täuschen kannst. Ich werde dich nicht aus den Augen lassen, du verdorbenes dänisches Weib.«
Seine donnernde Stimme dröhnte in ihren Ohren, die seit Stunden nur die Stille der Kirche vernommen hatten. Die Böswilligkeit, mit der er seine Worte ausspie, zeigte Ragnhild, wie lange er diese schon in sich trug. Niemals hätte sie geahnt, dass er sie so sehr hasste.
Noch immer wagte sie nicht aufzuschauen. Sie fühlte seinen Blick auf ihrem Leib. Er verachtete sie, doch gleichzeitig betasteten seine Augen die Rundungen ihres Körpers.
Sie fühlte, dass er sie anstarrte; und sie war ihm schutzlos ausgeliefert. Als sie kurz davor war, etwas Besänftigendes zu erwidern, drehte er sich mit fliegenden Röcken um und verließ die Kirche. Hastig stand sie auf und strich ihr Kleid glatt. Nachdem sie sicher war, dass er auch wirklich nicht zurückkommen würde, verließ auch sie eilig das Gotteshaus. Ragnhild zwang sich zur Ruhe. Sie wollte nicht über den Zwischenfall nachdenken, doch sie tat es den ganzen Heimweg lang. Die Bedrohung, die von Vater Lambert ausging, legte sich wie ein dunkles Tuch über ihr Gemüt. Ihr war nun klar, dass sie ein Leben lang gegen den Geistlichen würde kämpfen müssen. Doch nicht nur ihr selbst galten ihre Gedanken. Was war mit ihren Kindern? Konnte sie die Kleinen auf Dauer schützen? Ragnhild kannte die Antwort nicht. Sie wusste auch nicht, wie sie sich verhalten sollte, damit Vater Lambert keinen Anstoß an ihr nahm. Es war ausgeschlossen, nicht mehr in die Kirche zu gehen. Sofort würde sie den Verdacht der Ungläubigkeit auf sich ziehen. Doch ginge sie zu häufig in das Gotteshaus, könnte man ihr vorwerfen, sie hätte etwas zu verbergen. Es schien ihr unmöglich, das Richtige zu tun.
Gerade jetzt wünschte sie sich nichts mehr, als in Frieden trauern zu dürfen. Allein sein wollte sie, um sich in Erinnerungen flüchten zu können. Erinnerungen an eine Zeit, da es nur sie beide gegeben zu haben schien – Albert und Ragnhild. Tage voller Liebe und Heimlichkeiten, als sie fast noch Kinder gewesen waren; sie schienen so unendlich weit weg. Krampfhaft versuchte sie sich vorzustellen, wie es sich angefühlt hatte, von jemandem beschützt zu werden, doch sie konnte sich kaum noch an das Gefühl erinnern.
Conrad lag hellwach in seinem Bett. Neben ihm schnarchte Luburgis. Er hatte wirr geträumt und war mitten in der Nacht aufgeschreckt. Seitdem lag er da und versuchte sich mit Mühe an den Inhalt des Traums zu erinnern. Die Bruchstücke fügten sich mehr und mehr zusammen.
Albert war ihm im Traum erschienen.
Erstaunlicherweise ging es nicht um eine ihrer unzähligen geschäftlichen Auseinandersetzungen, die sie mit den Jahren mehr und mehr entzweit hatten. Auch ging es nicht um die Streitigkeiten, die nach der Hochzeit mit Ragnhild entstanden waren. Es ging um ihre Kindheit.
In seinem Traum waren sie beide gleich alt. Ihre Mutter Mechthild war mit ihnen in einem Wald, und sie alle spielten miteinander. Zu dritt rannten sie zwischen den Bäumen hindurch und lachten. Conrad fühlte sich glücklich. Die Sonne schien warm vom Himmel. Lächelnd griff er nach einem großen Stein. Er war fast zu groß für seine kleine Kinderhand. Im nächsten Moment
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