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Die Frau des Ratsherrn: Historischer Roman (German Edition)

Die Frau des Ratsherrn: Historischer Roman (German Edition)

Titel: Die Frau des Ratsherrn: Historischer Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Joël Tan
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gedacht hatte, maßregelte sie sich allerdings selbst und sprach die vorgesagten Gebete noch inbrünstiger und mit überdeutlichen Lippenbewegungen nach. Um nicht weiter aufzufallen, hielt sie die ganze Zeit über den Kopf züchtig gesenkt. Ihr Kleid war hochgeschlossen, ihre Haube tief ins Gesicht gezogen und ihre Hände stets brav gefaltet.
    Dennoch befiel sie häufig das unheimliche Gefühl, dass der allzeit strenge Pfarrvikar sie durchschaute. In solchen Momenten wurde ihr immer angst und bange. Schon oft hatte er sie während der ganzen Messe eindringlich und misstrauisch angesehen. Sein Blick war förmlich in sie hineingekrochen und klebrig wie Baumharz an ihr haften geblieben. Ragnhild spürte in seiner Gegenwart stets, wie sehr der übereifrige Geistliche darauf lauerte, dass sie sich eine Verfehlung leistete. Wie viele Hamburger hasste auch er die Dänen – und somit Ragnhild.
    Doch am heutigen Tage wollte sie seinen Hass nicht an sich herankommen lassen. Es gelang ihr, all die feindseligen Blicke und all den Tadel über die Verderbtheit der Frau nahezu ungehört an sich abprallen zu lassen, denn ihre Freude auf den Tag überdeckte jede Furcht. So zog die Messe wie im Schlaf an ihr vorüber.
    Nach dem letzten Amen strömten die Menschen durch das Westportal der Kirche wieder nach draußen; fast so, als konnten sie es alle nicht erwarten, den strengen Augen des Klerikers zu entkommen.
    Wie erwartet, waren die drei Frauen nach der Messe bis auf die Knochen durchgefroren, und Runas Lippen wiesen sogar eine leicht bläuliche Färbung auf. Draußen war es zwar ebenso bitterkalt, aber dafür noch immer sonnig.
    Ragnhild nahm Runa an der Hand und versprach, dass sie sich gleich würde aufwärmen können. Dann machten sie sich auf den Weg Richtung Fischerviertel.
    Gemeinsam liefen sie an den elf Domkurien vorbei, geradewegs auf die Steinstraße zu. Vor fünf Jahren war diese Straße, als erste Straße Hamburgs, mit den Steinen der ehemaligen Bischofsburg gepflastert worden. Heute hatte dies allerdings lediglich zur Folge, dass sie sich gegenseitig stützen mussten, um nicht auf dem eisglatten Untergrund auszurutschen, den die Novembersonne noch nicht hatte auftauen können. So ließen sie sich Zeit, schwatzten, scherzten und lachten und gingen dabei langsam auf die Kirche St. Jacobi mit ihrem Vorhof zu. Die Freundinnen genossen die gemeinsame unbeschwerte Zeit. Alle waren sich einig, viel zu wenig davon zu haben.
    Des unterschiedlichen Standes wegen war die Freundschaft zu Hilda schwieriger geworden, doch hier, im noch immer ländlichen Viertel der Fischer, kannte niemand die Dame Ragnhild. Ihr schlichtes Kleid, welches sie extra für die Kirche angezogen hatte, um von Vater Lambert nicht als tugendlos getadelt zu werden, kam ihr nun zugute. Auch wenn es aus besserem Tuch war als das von Hilda und Marga, schien der Standesunterschied so nicht mehr ganz so groß. Sicher wäre niemand darauf gekommen, dass Ragnhild ihre Freundin um ihr kleines Häuschen regelrecht beneidete, in das sie sich jederzeit zurückziehen konnte. Gerade in dieser Zeit hätte sie ihr eigenes Heim unter Conrad und Luburgis sogar glatt gegen das kärgliche der Magd eingetauscht; ganz gleich, wie viel Behaglichkeit sie dadurch eingebüßt hätte.
    Das Kirchspiel St. Jacobi war erst kürzlich in die Stadtbefestigung mit eingeschlossen worden, und noch immer unterschied sich diese Gegend vom Rest Hamburgs. Überall rannten kleine schmutzige Kinder herum, die Schweine und Hühner durch die Straßen trieben. Die Sprache der Menschen aus diesem Kirchspiel war gröber als die der Übrigen, und alle, die ihnen begegneten, schienen einfache Leute in nicht minder einfacher Kleidung zu sein.
    Plötzlich erkannte Ragnhild unter den Fischern und Handwerkern, deren Frauen und Kindern, fünf Beginen-Schwestern, die ihnen entgegenkamen. Ihre unverkennbaren blauen Kutten und weißen Schleier waren schon von Weitem zu sehen. Dieser Anblick war in diesem Kirchspiel nicht ungewöhnlich, schließlich befand sich das Kloster der Schwestern genau gegenüber der Pfarrkirche St. Jacobi. Es beherbergte zehn so genannte Freiwohnungen, welche von den Hamburger Witwen behaust wurden, die zu arm für ein eigenes Heim waren. Es war die Hauptaufgabe der frommen Schwestern, sich um diese alleinstehenden, armen oder kranken Frauen zu kümmern.
    Ragnhild und ihre Freundin grüßten die Schwestern höflich, schenkten ihnen weiter jedoch kaum Beachtung. Erst als sie an der Gruppe

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