Die Frau des Ratsherrn: Historischer Roman (German Edition)
nicht eindeutig geklärt ist, dass er tot ist. Das ist eine Sünde, und ich werde mich nicht an dem Zweitgeborenen des ehrenwerten Conradus von Holdenstede versündigen.«
Die letzten Worte wurden durch das Knallen seiner Hände auf die Tischplatte unterstrichen.
»Jawohl!«, hörte man es aus mehreren Mündern. Wo eben noch fast ein Drittel der Anwesenden auf Conrads Seite gewesen waren, hatte das überraschende Erscheinen des Überlebenden seine Wirkung nicht verfehlt. Nun schien wirklich kaum noch jemand gewillt zu sein, sich für Conrad einzusetzen. Es war wie eine Welle, die durch den Raum schwappte und die Anwesenden erfasste.
Conrad musste machtlos zusehen, wie diejenigen, deren Fürsprache er sich immer sicher gewesen war, nun immer stiller wurden oder sich gleich der anderen Seite anschlossen. In seiner Verzweiflung schaute er sogar zu dem fetten Hans Wulfhagen hinüber, der jedoch über alle Maßen mit seinen Fingernägeln beschäftigt war. Feigling, dachte Conrad abschätzig und wandte sich mit einem wütenden Schnauben von ihm ab. »Offenbar ist das Ganze bereits beschlossene Sache«, stellte er empört fest. »Wenn so etwas schon einfach über meinen Kopf hinweg entschieden wird, wäre es sehr freundlich, wenn Ihr mir auch sagen könntet, wie das vonstattengehen soll.« Niemand entging Conrads spöttischer Unterton. Er war fassungslos ob der Dreistigkeit, mit der man ihm Vorschriften machte. Mehr und mehr wurde ihm bewusst, was diese Auflage bedeutete. Ragnhild würde weiterhin bei ihm im Hause leben und ebenso die Bälger seines Bruders. Es kam ihm vor wie ein Fluch. Wann würde er diese Bürde endlich abschütteln können?
»Es ist doch ganz einfach«, platzte Ecbert von Harn mit dargebotenen Handflächen heraus. »Ihr entsendet einen Boten an die Küste Butjadingens. Dieser Bote soll sich da, wo die Wrackteile gefunden wurden, nach Hinterlassenschaften oder Gräbern umsehen. Er soll einen Sprachkundigen mitnehmen, der die einheimischen Friesen und die Missionare dort befragt. Wie viele Leichen wurden gefunden? Wie sahen sie aus? Gab es vielleicht Verletzte, die noch immer unter den Lebenden sind und in den umliegenden Klöstern gepflegt werden? Nach den heutigen Neuigkeiten ist doch so gut wie alles möglich. Seid Ihr etwa nicht ebenso daran interessiert zu erfahren, ob Euer Bruder noch am Leben ist? Fast könnte man meinen, Ihr wärt erleichtert, dass er fort ist.«
»Das ist eine unerhörte Anschuldigung!«, donnerte Conrad zurück. »Solche Worte muss ich mir nicht von Euch gefallen lassen!«
»O doch, das müsst Ihr. Ich kannte Euren Vater, Conradus von Holdenstede. Vielleicht sogar besser, als Ihr ihn selbst je gekannt habt. Er hätte alles getan, um sich vom Tod seines Sohnes zu überzeugen. Er war ein gottesfürchtiger und gerechter Mann, der wahrscheinlich sofort, nachdem ihn die Kunde von dem Unglück erreicht hätte, eigenmächtig jemanden ausgesandt hätte. Ihr beschmutzt sein Erbe, indem Ihr Euch gegen diese Form des Beweises wehrt.«
Conrad fiel zurück auf das harte Ratsgestühl. Er konnte sich nicht erklären, wie diese Sitzung eine solche Wende hatte nehmen können. Auch wenn er wusste, dass die Freunde seines Vaters derzeit nicht besonders gut auf ihn zu sprechen waren, beschlich ihn dennoch das Gefühl, dass hier irgendwas nicht mit rechten Dingen zuging. Angestrengt fragte er sich, was es war. Obwohl es in dieser Diskussion um seine eigene Zukunft ging, schirmte er für einen kurzen Moment seine Augen mit einer Handfläche ab. Nach einigen tiefen Atemzügen schaute er wieder auf. Sein Blick blieb bei Johannes vom Berge hängen, der als Einziger, mit einem selbstherrlichen Grinsen über den Tisch hinweg, genau in seine Augen schaute.
Conrad wurde stutzig. Warum starrte sein Schwager ihn so zufrieden an, während es ihm an den Kragen ging? Warum lächelt der Bastard so? Wut brodelte in ihm. Am liebsten wäre Conrad über den Tisch gesprungen und hätte seinen illoyalen Schwager zur Rede gestellt; doch er hatte keine Gelegenheit mehr, diesen Gedanken zu vertiefen.
Stetig wurde es lauter im Saal. Drei besonders hitzköpfige Redner sprangen von ihren Bänken hoch, um ihren Argumenten Nachdruck zu verleihen. Sie gestikulierten wild mit den Händen und fielen sich gegenseitig ins Wort. Die Diskussion kochte hoch, und die Köpfe einiger Ratsherren verfärbten sich rot.
Obwohl der Großteil der Männer für das Aussenden eines Boten war, gab es dennoch ein paar wenige, die
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