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Die Frau des Seiltaenzers

Die Frau des Seiltaenzers

Titel: Die Frau des Seiltaenzers Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Philipp Vandenberg
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Grinsen.
    Kirchner bezweifelte, dass der Fürstbischof noch irgendeine Geldquelle auftun könnte. Matthäus Schwarz würde ihm keinen Groschen mehr borgen, solange er nicht einmal die Zinsen für die bestehenden Schulden beglichen hatte. Und was die reichen Juden betraf, die zwischen Flachsmarkt und Betzelgasse ein ganzes Viertel in Beschlag genommen hatten, waren diese viel zu schlau, umsich auf ein finanzielles Abenteuer einzulassen, dessen Ausgang ungewiss war wie das Horoskop eines Sterndeuters.
    Zögerlich wiederholte Kirchner: »Euer kurfürstliche Gnaden, vor den Toren der Stadt wartet der Abgesandte des Papstes, Kurienkardinal Giustiniani, noch immer auf einen würdigen Empfang.«
    Da rief Albrecht von Brandenburg aufbrausend: »Was habe ich mit Giustiniani zu schaffen? Ich habe ihn nicht eingeladen, und er hat sich nicht angemeldet. Schickt die Domherren vor die Tore. Aber sie sollen frische Wäsche anziehen, damit sie nicht so stinken!«
    Der Leichenzug für den Großen Rudolfo geriet unversehens zu einer Art Volksfest. Leonhard Khuenrath, der Riese von Ravenna, zog in seiner Schaustellertracht – einem Bärenfell, das seinen muskulösen Körper nur dürftig verhüllte – den zweirädrigen Karren mit dem Sarg des Seiltänzers. Und wo immer er auftauchte, brandete der Beifall der Massen auf. Die Menschen, die den letzten Weg des Gauklers säumten, warfen Sommerblumen auf den Karren. Es schien, als wäre in Vergessenheit geraten, dass der Große Rudolfo keines natürlichen Todes gestorben, sondern einem Anschlag zum Opfer gefallen war. Aber ein Gaukler galt als vogelfrei, und sein Ableben lag außerhalb geltender Gesetze.
    Hinter dem Leichenkarren schritt würdevoll und schwarz gekleidet wie ein Pfaffe Constantin Forchenborn, der Marktschreier. In seinem dunklen Mantel hob er sich deutlich von den übrigen Gauklern ab, welche den toten Seiltänzer auf seinem letzten Weg in bunter Gauklerkleidung begleiteten: der Jongleur Benjamino in grünen Pluderhosen und mit Goldbändern um den nackten Oberkörper geschlungen; Jadwiga, die polnische Schlangenfrau, in einem dünnen Seidengewand, das eng ihren Körper umschmeichelte; der bucklige Quacksalber in einem feuerroten Umhang und ebensolcher Haube; und die vier Fuß kleine Zwergenkönigin in jenem hauchdünnen, durchsichtigen Gewand, in dem sie sich in der Menagerie zur Schau stellte.
    Ihnen folgte, von zwei Pferden gezogen, der blau und rot bemalte Gauklerwagen mit der Aufschrift DER GROSSE RUDOLFO auf beiden Seiten und dahinter der Pulk der Fuhrknechte, die mit rauen Kehlen das alte Gauklerlied anstimmten: »So ziehen wir, so ziehen wir, von einem Ort zum a-an-dern …«
    Als der Beifall der Mainzer für einen Augenblick zu verstummen drohte, rief einer aus der Menge: »Wir wollen den Großen Rudolfo seiltanzen sehen.« Da brach erneut der Jubel aus, noch lauter als zuvor, und die Domherren, die hinter Rudolfos Gauklerwagen würdig einherschritten, blickten unruhig nach allen Seiten, aus Angst, das Volk könne den Leichenzug stürmen und sich mit dem eingesargten Rudolfo davonmachen.
    Die meisten Mainzer Bürger kannten den griesgrämig dreinschauenden, in einen goldbestickten Rauchmantel gehüllten Alten nicht, der von acht Lakaien in Livree in einer Sänfte getragen wurde. Es war Kurienkardinal Giustiniani, der ab und an seine behandschuhte Rechte aus dem Umhang hervorstreckte und ein segnendes Kreuzzeichen schlug, von dem jedoch kaum jemand Notiz nahm.
    Aus gutem Grund hatten sich Albrecht von Brandenburg und sein Privatsekretär Joachim Kirchner auf die Galerie des Ostchores begeben, der das Langhaus des Domes abschloss. Dort, in dem säulenbewehrten Umgang in luftiger Höhe, bot sich der beste Ausblick auf den Liebfrauenplatz und die Stelle, an der Rudolfo zu Tode gekommen war.
    Als Khuenrath mit dem Leichenkarren die Stelle passierte, hielt er kurz inne und senkte den Blick zur Erde. Schließlich blickte er nach oben zum rechten der beiden Rundtürme am Ostchor und reckte die geballte Faust gen Himmel. Dann setzte er seinen Weg fort.
    »Was hat das zu bedeuten?«, erkundigte sich der Fürstbischof bei seinem Sekretär, ohne sich von dem Leichenzug abzuwenden. Denn hinter dem Abgesandten des Papstes und seinen Begleitern, die den Kardinal wie Soldaten einrahmten, schritten vornehme Gäste undWürdenträger einher, die man eher beim Begräbnis eines Königs als dem eines Seiltänzers erwartet hätte.
    »Die geballte Faust in Richtung des Domturms?«,

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