Die Frau des Seiltaenzers
blinde Mann setzte jenes überlegene Lächeln auf, das Schweinehirt von Anfang an verunsichert hatte, und antwortete: »Ad eins bezweifle ich, dass im Vatikan, wo Lust und Ausschweifung mehr Beachtung finden als die Wissenschaft, so kluge Männer ihresAmtes walten. Ad zwei wäre Seine Heiligkeit alles andere als erfreut über die Erkenntnisse des Abtes Trithemius.«
»Ihr redet, als würdet Ihr den Inhalt der geheimen Schriften kennen«, wandte Schweinehirt ein. »Oder seid Ihr gar ein Steganograph?«
»Ein Steganograph? Nein, der bin ich zu meinem Leidwesen nicht. Aber ich habe zehn Jahre die Schriften des Trithemius archiviert. Da bekommt man zwangsläufig Dinge mit, von denen ein Außenstehender keine Ahnung hat – wenn Ihr versteht, was ich meine.«
»Tut mir leid, Bruder Lucius, ich weiß wirklich nicht, was Ihr damit sagen wollt.«
Schweinehirt war wahrhaft ein schlechter Schauspieler.
Jedenfalls reagierte der blinde Mönch aufbrausend, wie er ihn bisher nicht erlebt hatte, und fauchte: »Stellt Euch nicht dümmer als Ihr seid. Ihr wisst genau, dass Trithemius nicht nur der Abt von Sankt Jakobus war, sondern auch ein Mann von höchster Bildung und umfassendem Wissen, der mit den klügsten Köpfen auf Du und Du stand. Auch bin ich der Überzeugung, dass Euch seine Mitgliedschaft in einer Geheimloge nicht unbekannt ist. Also stellt Euer Licht nicht unter den Scheffel und tut nicht so, als hättet Ihr von alldem keine Ahnung. Es ist mir wirklich zuwider, wenn man mich für einen alten, mit Blindheit geschlagenen Einfaltspinsel hält.«
»Ihr – Ihr wusstet also, dass Trithemius einer der Neun Unsichtbaren war?« Schweinehirt kam ins Stottern, so sehr beunruhigte ihn die plötzliche Wendung des Gesprächs.
»Wie ich schon sagte«, entgegnete Bruder Lucius, »zehn Jahre war ich für Trithemius so etwas wie ein Secretarius. Dabei erfuhr ich zum Beispiel, dass die Wunder, die unser Herr Jesus wirkte und die im Neuen Testament mit Hingabe beschrieben werden, gar keine Wunder sind.«
»Sondern?«
»Ausgeburten menschlichen Forscherdrangs. Seit Jahrtausenden beschäftigt sich die Menschheit mit Dingen, die möglich sind. Eswäre besser, sie würde sich mit Dingen beschäftigen, die unmöglich bleiben sollten. Trithemius gab sich ausschließlich mit solchen Dingen ab. Die Vorstellung, das Unmögliche möglich zu machen, war ihm eine Lust. Mit Vorliebe las er Bücher heidnischer Schriftsteller und sündigen Inhalts. Als ich ihn deshalb zur Rede stellte, entgegnete er schroff, ich solle mich um meinen eigenen Kram kümmern und nicht um das hehre Gedankengut großer Geister, das zu begreifen mir ohnehin nicht gegeben sei.«
»Harte Worte für einen Abt und Jünger des Herrn!«
»Allerdings. Wenn Ihr mich fragt, war Trithemius in seinen letzten Jahren weniger ein Jünger des Herrn als ein Jünger des Okkultismus. Ich bin alles andere als ein Frömmler, doch meine ich, ein Benediktiner, noch dazu ein Abt, sollte nach den Regularien des heiligen Benedikt leben und sein Leben nicht nach den Büchern obskurer Nigromanten und Okkultisten gestalten.«
»Verständlich, wenn Ihr mit Trithemius darüber in Streit geraten seid.«
»Streit?« Bruder Lucius lachte voll Bitternis. »Trithemius drohte, mich aus der Abtei zu verweisen, und entzog mir von einem Tag auf den anderen sein Vertrauen. Ihr müsst wissen, bis dahin war ich eingeweiht in alle seine Obliegenheiten. Ich hatte alle seine Bücher und Schriften gelesen und wusste von seiner Mitgliedschaft in einem Geheimbund, den einzuschätzen Ihr bei Weitem noch nicht in der Lage seid. Mich hatte Trithemius vorgesehen, sein geistiges Erbe anzutreten. Nach seinem Tod sollte ich als ›Quartus‹ Mitglied der geheimen Bruderschaft werden, die zu allen Zeiten aus neun Männern oder Frauen besteht.«
»Und was wisst Ihr über die Bruderschaft der Neun?«, fragte Schweinehirt aufgeregt.
»Manches, aber beileibe nicht alles. Und vielleicht ist das auch gut so.«
»Und was wisst Ihr über die übrigen acht? Kennt Ihr deren Namen?«
Bruder Lucius schüttelte den Kopf, dass sein weißer Bart wallte wie ein Segel im aufkommenden Wind. »Dies sei das größte Geheimnis, pflegte Trithemius, darauf angesprochen, zu sagen. Das Ergebnis unserer Meinungsverschiedenheiten war jedenfalls, dass Trithemius kurz vor seinem Tod sein Vermächtnis einem hergelaufenen Seiltänzer überantwortete. In Würzburg hielt sich zu dieser Zeit gerade eine Gauklertruppe auf. Unter ihnen ein Zauberer
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