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Die Frau des Seiltaenzers

Die Frau des Seiltaenzers

Titel: Die Frau des Seiltaenzers Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Philipp Vandenberg
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verlegen. »Dich hätte ich hier zu allerletzt erwartet, als der Pförtner mir sagte, da sei jemand, der mit mir reden wolle.«
    »Der Jemand bin ich«, antwortete Magdalena und trat auf Wendelin zu. Für Augenblicke standen sich die beiden ganz nahe gegenüber.
    »Was habe ich getan«, fragte Wendelin, »was habe ich falsch gemacht, dass du mich plötzlich verachtest und mit Schweigen strafst? Ich bin mir keiner Schuld bewusst.«
    »Nein, nein«, meinte Magdalena leise und schüttelte den Kopf. »Ich bin es, die Schuld auf sich geladen hat. Meine Gedanken gingen in die falsche Richtung. Aber wenn ich dir den Grund für meinen Irrtum erzähle, vielleicht kannst du mich dann verstehen und mir verzeihen.«
    Und dann fasste Magdalena Schweinehirt an der Hand und begann zu berichten, wie sie in seinem Gepäck auf XeranthesHandschuh gestoßen und in Panik geraten sei. Kein anderes Ziel als dieses habe der Weibsteufel mit seinem Handstreich verfolgt. Im Übrigen sei nicht nur sie von Xeranthe getäuscht worden, den unwissenden Weinkutscher habe das Weib mit einem wertlosen Glasscherben um seinen Lohn gebracht.
    Zuerst schwieg Wendelin eine Weile, als zweifelte er an Magdalenas Worten. Aber dann fielen sich beide in die Arme, und Schweinehirt küsste Magdalena auf die Stirne.
    Auf dem Gang zur Pförtnerstube hörte man unsichere Schritte, und die beiden ließen voneinander ab. Der weißhaarige Pförtner betrat den Raum, blickte um sich, als suche er nach etwas Bestimmtem, und begann zögernd: »Ich habe mit Abt Matthias geredet. Wenn Ihr wollt, könnt Ihr noch heute die Aufgabe des Bibliothekars der Abtei Sankt Jakobus übernehmen.« Dabei warf er Magdalena einen freundlichen Blick zu.
    Mit einem Ausdruck von Ratlosigkeit sah Magdalena Wendelin an: Wieso ich? Eigentlich hatte doch er mit dem Abt gesprochen.
    Verwirrt wandte sie sich an Bruder Lucius: »Ich danke Euch für Euer Vertrauen, aber wäre es nicht möglich, dass wir beide …«
    »Für Euch, Jungfer, konnte ich leider nichts tun, obwohl ich mit Engelszungen auf den Abt einredete. Ein Frauenzimmer, meinte er, habe in den Mauern der Abtei nichts zu suchen, es verbreite nur Unruhe unter den Mönchen.«
    »Aber Ihr sagtet doch eben, ich könne noch heute die Aufgabe des Bibliothekars übernehmen!«
    »Nicht Ihr, Jungfer, Euer Begleiter!«
    Den Augenblick allgemeiner Verwirrung nutzte Bruder Lucius zu einer Erklärung: »Vielleicht ließ mein Blick etwas anderes vermuten als meine Rede. Ihr müsst wissen, vor drei Monaten hat mich mein Augenlicht verlassen – von einem Tag auf den anderen. Ich bin blind.«
    »Blind?«
    Mit Entsetzen blickte Magdalena in die trüben Augen des weißhaarigen Mannes. Der schmunzelte ein wenig. Anscheinend nahmer sein Leiden nicht besonders tragisch. »Ja, blind«, wiederholte er, keineswegs nach Mitleid heischend, »dafür sehe ich mit den Ohren. Bei Euch, Jungfer, muss ich mich wohl ›verhört‹ haben. Ihr habt meine Ohren verwirrt. Gewiss seid Ihr ein ansehnliches Frauenzimmer!«
    »Aber Ihr bewegt Euch wie ein Sehender! Nie und nimmer hätte ich bemerkt, dass Euch das Augenlicht abhanden gekommen ist. Seht Ihr wirklich überhaupt nichts?«
    »Um mich ist nichts als Dunkelheit. Nur die Stundengebete nach den Regeln des heiligen Benedikt lassen vor meinen trüben Augen die Sonne auf- und untergehen. Im Übrigen sind Augen nicht vonnöten, wenn es darum geht, sich in einer Abtei zurechtzufinden. In diesen Mauern habe ich mein ganzes Leben zugebracht. Ich kenne jede Wand und jeden Winkel.«
    Fasziniert von der Gelassenheit, die der Mönch an den Tag legte, meinte Magdalena: »Gewiss habt Ihr bei schlechtem Licht zu viel in Euren Büchern gelesen!«
    »Zu viel?« Der alte Mann lachte. »Zu viel kann man überhaupt nicht lesen, eher zu wenig. Nein, wenn der Verlust meines Augenlichts einen Grund hat, so diesen, dass ich Dinge gelesen habe, die zu lesen einem frommen Christenmenschen nicht zustehen. Aber meine Neugierde auf Vergangenheit und Zukunft war größer als mein Glaube an die gegenwärtigen Gebote der Kirche. Die verbietet, sich derlei Aufzeichnungen zu Gemüte zu führen. Schändlicherweise, ich gebe es zu, habe ich es auch unterlassen, diese Werke zu verbrennen, nachdem ich sie gelesen und als dem christlichen Glauben schadend erkannt hatte. Ich bin der Ansicht, dass die Verbrennung von Büchern nichts anderes ist als ein Eingeständnis eigener Schwäche.«
    Mit anscheinend sicherem Blick wandte sich Bruder Lucius Wendelin

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