Die Frau des Seiltaenzers
eines der Grabdenkmäler der Äbte fiel, die zuhauf in die Wände eingelassen waren, schien es die steinernen Gesichter für Augenblicke zum Leben zu erwecken: Macarius, den ersten Abt von St.Jakobus, mit stierem Blick; den Schotten Matthew, von derbem Aussehen; und Kilian Crispus, Trithemius’ Vorgänger, der staunend in die Zukunft zu blicken schien; und im hintersten Teil des Kreuzganges, so, als wollte man ihn verstecken und täte nur widerwillig der Christenpflicht Genüge: Johannes Trithemius.
Das Epitaph aus rötlichem Sandstein zeigte Trithemius stehend in schlichtem Ornat, die Mitra auf dem Kopf, mit der Linken den Abtsstab umfassend. Mit der Rechten presste er ein offenes Buch an den Leib. Das Faszinierendste an Trithemius’ Darstellung war sein Gesicht. Es schien ausdruckslos, ungerührt stoisch, keinesfalls beseelt wie die steinernen Gesichter der übrigen Äbte. Doch je länger man dem Bildnis in die Augen sah – Trithemius hielt den Blick fest auf den Betrachter gerichtet –, desto mehr wandelte sich seinGesichtsausdruck zu einem Lächeln, einem allwissenden, ironischen, sogar zynischen Lächeln.
Von Magdalena darauf angesprochen, ob er ebenso empfinde, nickte Schweinehirt verunsichert. »Wie ist das möglich?«, flüsterte er.
Magdalena nahm Wendelin die Laterne aus der Hand. »Je länger ich das offene Buch betrachte, das Trithemius an den Leib presst, desto stärker wird mein Eindruck, er will uns den Inhalt des Buches verschweigen, er will ihn für sich behalten. Eine Bibel oder ein Evangeliar ist es jedenfalls nicht.«
»Nein«, erwiderte Schweinehirt, »dazu sind die Buchbeschläge an den Ecken zu profan! Und auf dem Einband ist kein Kreuz zu sehen wie auf anderen frommen Büchern.«
Mit der Laterne leuchtete Magdalena jeden Winkel des Epitaphs ab. Und dabei machte sie eine seltsame Entdeckung: Das Denkmal war nicht aus einem Stein gehauen. Der Rundbogen mit dem Schriftband über dem Haupt des Trithemius war aufgesetzt.
»Ungewöhnlich, findest du nicht?«, fragte Magdalena und fügte hinzu: »Im Übrigen eines so bedeutsamen Künstlers wie Tilman Riemenschneider unwürdig: ein gestückeltes Epitaph!«
Magdalena hielt inne. Schräg oben warfen die Falten des Gewands, das Trithemius trug, breitere Schatten.
»Wendelin«, rief Magdalena wie von Sinnen, »sieh nur!«
Und als Schweinehirt nicht sofort begriff, was sie meinte, stammelte sie aufgeregt: »Die Falten sind das exakte Abbild der dreischwänzigen Schlange, die ständig mein Leben kreuzt.«
Irritiert sah Schweinehirt Magdalena an.
»Zuletzt in deiner Bibliothek in Eberbach, wo Doktor Faust über einer Mainkarte eingeschlafen war.«
In diesem Moment endete das Stundengebet mit einem kurzen Chorgesang, und für Magdalena war Eile geboten, die Abtei zu verlassen.
Im Gehen bemerkte Schweinehirt: »Du wirst mir allmählich unheimlich, Magdalena. Zweifellos hast du recht. Die dreischwänzigeSchlange ist auch in diesem Fall ein verschlüsselter Hinweis darauf, dass die ›Bücher der Weisheit‹ irgendwo am Lauf des Mains versteckt sind. Weiter hilft uns der Hinweis jedoch nicht. Der Main ist lang, und die Suche nach der Nadel im Heuhaufen ist sicher weniger mühevoll, denn dabei kennte man immerhin die Lage des Heuhaufens.«
Magdalena ging nicht näher auf Wendelins Bemerkung ein. Sie hatte eine Ahnung, wie sie nur ein Mensch haben kann, der sich tagaus tagein mit ein und derselben Sache beschäftigt. Und so nahm sie am folgenden Tag den Weg zum Haus des Tilman Riemenschneider in der Franziskanergasse.
20. KAPITEL
D as stattliche Haus in der Würzburger Franziskanergasse machte den Eindruck, als sei es von seinen Bewohnern verlassen. Als Magdalena an der kunstvoll geschnitzten Eingangstüre klopfte, geschah zunächst einmal nichts. Sie wollte schon kehrtmachen, um später noch einmal wiederzukommen, da wurde linker Hand neben der Türe ein winziges Fenster geöffnet, und ein verhärmtes Frauengesicht erschien in der Öffnung.
»Ich bin Magdalena Beelzebub und möchte Meister Tilman Riemenschneider sprechen, wenn’s gefällig ist«, sagte Magdalena.
»Meister Riemenschneider lebt nicht mehr«, erwiderte die verhärmte Frau und schlug das Fenster zu.
Magdalena stand wie versteinert da. Es dauerte eine Weile, bis sie sich wieder gefangen hatte und den Rückweg antrat. Nach wenigen Schritten hörte sie, wie jemand ihren Namen rief. Sie wandte sich um: Es war Jörg, Riemenschneiders Sohn.
»Verzeiht«, rief er ihr noch aus der
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