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Die Frau des Seiltaenzers

Die Frau des Seiltaenzers

Titel: Die Frau des Seiltaenzers Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Philipp Vandenberg
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und Seiltänzer, der allerlei Kunststücke vollführte. Ihn, sagte Trithemius, wolle er mit seinem geheimen Erbe zum größten Seiltänzer der Welt machen. Daran mögt Ihr erkennen, welche absurden Ziele Abt Trithemius damals verfolgte.«
    Schweinehirt spielte den Ahnungslosen: »Und was ist aus dem Seiltänzer geworden?«
    Der Mönch machte ein Gesicht, als habe er auf ein Blatt Sauerampfer gebissen. »Er wurde tatsächlich zum bedeutendsten Seiltänzer der Welt und tingelte mit seiner Gauklertruppe durch alle Lande. Ich kann mir nicht vorstellen, dass das mit rechten Dingen zuging.«
    »Was soll das heißen, Bruder Lucius?«
    »Nun ja, es ist schwer nachzuvollziehen, dass ein mittelmäßiger Gaukler gleichsam über Nacht zum besten Seiltänzer der Welt wird. Es ist noch gar nicht lange her – die Bauernaufstände hatten gerade ihr blutiges Ende gefunden –, da tanzte der Große Rudolfo, wie er sich jetzt nannte, auf einen der vorderen Domtürme dieser Stadt, als sei es die selbstverständlichste Sache der Welt.«
    »Aber der Seiltänzer stürzte ab und fand dabei den Tod! Wusstet Ihr davon?«
    »Die Nachricht erreichte auch Würzburg und rief tiefe Bestürzung hervor. Die Nachricht von Papst Clemens’ Tod hätte keine größere Wirkung haben können.«
    »Spricht sein Tod nicht gegen Eure Annahme, dass der Seiltänzer sich übernatürlicher Hilfsmittel bediente?«
    »Im Gegenteil!« Bruder Lucius wedelte mit den Händen. »Jeder, der dem Geheimbund angehört, schwört einen heiligen Eid, überseine Mitgliedschaft und sein Wissen zu schweigen. Bricht er das Schweigen, dann sind die übrigen Mitglieder verpflichtet, ihn zu töten. Und was den Großen Rudolfo betrifft, soll er durch ein Attentat ums Leben gekommen sein.«
    »Da fügt sich in der Tat eins ins andere«, bemerkte Schweinehirt nachdenklich. »Wie starb eigentlich Euer Abt Trithemius?«
    Der Mönch nickte mehrmals, als suche er nach der richtigen Antwort. Endlich begann er zu reden: »Trithemius wurde nicht einmal fünfzig Jahre alt. Kein Alter für einen Benediktiner, dessen Ordensbrüder aufgrund besonnener Lebensführung leicht das achte Jahrzehnt erreichen. Seht mich an! Trithemius strotzte vor Lebenskraft. Aber vor etwa neun Jahren begann er plötzlich vom Tod zu reden. Er ließ Tilman Riemenschneider kommen und gab ein Epitaph in Auftrag. In der Krypta der Abtei suchte er einen Platz aus, an dem er die letzte Ruhe finden wollte. Auch seinen Leichenzug organisierte er bis in alle Einzelheiten. Als er mit allem fertig war, legte er sich nieder und starb innerhalb einer Woche. Die näheren Umstände und das rätselhafte Zusammentreffen mit dem Seiltänzer habe ich Euch bereits geschildert.«
    »Und wurde alles nach seinen Wünschen ausgeführt?«
    »Es gab keinen Grund, sich seinem Letzten Willen zu widersetzen. Trithemius’ Leichenzug wurde wie gewünscht gestaltet, er fand sein Grab an der vorgesehenen Stelle, und sein Epitaph, über das der Abt mit Riemenschneider heftig gestritten hatte, wurde im Kreuzgang angebracht. Allerdings mit einer veränderten Inschrift.«
    In diesem Augenblick rief die Vesperglocke zum Chorgebet, und Bruder Lucius verschwand, ohne ein weiteres Wort zu verlieren.
    Wendelin Schweinehirt brannte darauf, Magdalena mitzuteilen, was der blinde Bibliothekar ihm anvertraut hatte. Gewiss, manches wusste sie bereits, aber die Umstände, warum Trithemius ausgerechnet Rudolfo, den er gar nicht kannte, zu seinem Nachfolger erkoren hatte, waren neu. Ebenso, dass Trithemius sich vonRiemenschneider ein Epitaph hätte meißeln lassen, über das es zu Auseinandersetzungen mit dem Künstler gekommen sei.
    Ungeduldig wartete Wendelin am Fenster seiner Kammer auf Magdalenas Erscheinen. Endlich kam sie, nichts ahnend, und Schweinehirt gab ihr ein Zeichen, sie solle auf ihn warten.
    Wie stets beim Stundengebet war die Abtei wie ausgestorben. Nur aus der Kirche hörte man den monotonen Singsang der Mönche.
    In knappen Worten schilderte der Bibliothekar Magdalena, was er von Bruder Lucius erfahren hatte. Wie Mosaiksteine fügten sich die Einzelheiten in ein Gesamtbild, aber bei der Suche nach den ›Büchern der Weisheit‹ half auch das nicht weiter.
    Angetrieben von einer unerklärlichen Macht, beharrte Magdalena darauf, Trithemius’ Epitaph in Augenschein zu nehmen. Die Zeit drängte, denn das Vespergebet war schon zur Hälfte vorüber.
    Im Schein einer Laterne schlichen Magdalena und Wendelin zum Kreuzgang. Wenn das flackernde Licht auf

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