Die Frau des Seiltaenzers
Entfernung zu, »aber seit die Bischöflichen meinem Vater die Hände zerschlagen haben, dass er kein Stemmeisen mehr halten kann, sitzt er nur noch herum, starrt Löcher in die Luft und redet kaum mehr als fünf Sätze am Tag.«
»Tilman Riemenschneider ist also gar nicht tot?«
»Tot? Nein, das nicht! Aber an manchen Tagen scheint es, als sei alles Leben aus ihm gewichen. Tags darauf packt ihn dann wieder die Tobsucht, er flucht und klagt über Taubheit in den Gliedern und Brand in den Fingern. Kann man das noch Leben nennen?«
Der junge Riemenschneider reichte Magdalena die Hand und verneigte sich höflich. »Er würde sich gewiss freuen, wenn Ihr ihm Eure Aufwartung macht.«
»Ihr meint, Euer Vater erkennt mich noch?«
Jörg hob beide Hände: »Wir haben mehr als einmal über Euch und Eure Hilfsbereitschaft gesprochen, damals, als er, an Leib und Leben zerstört, unverhofft freigelassen und mit Eurer Hilfe verarztet wurde. Kommt mit mir, er wird sich freuen, Euch zu sehen!«
Zögerlich folgte Magdalena dem jungen Riemenschneider. Sie war unsicher, wie der kranke Mann sie empfangen würde. Aber sie hatte ein Fünkchen Hoffnung, dass Riemenschneider ihr etwas über Trithemius sagen könnte, etwas, das ihr weiterhalf bei der Suche nach den ›Büchern der Weisheit‹.
Mit unguten Gefühlen betrat sie das Haus. Jörg geleitete sie in einen düsteren Raum im oberen Stockwerk. Dort saß er regungslos in einem Lehnstuhl, nachlässig gekleidet und wie ein Häufchen Elend: Tilman Riemenschneider. Schwer vorstellbar, dass dieser Mann, der seit ihrer Begegnung vor wenigen Wochen um Jahre gealtert war, so überragende Kunstwerke, Altäre, Grabmäler und Skulpturen geschaffen hatte – und doch war es so.
Meister Riemenschneider zeigte, als sie den Raum betraten, kein Interesse am Besuch der Fremden. Doch dann erkannte er Magdalena, und über sein trauriges Gesicht huschte ein zaghaftes Lächeln. Hilflos, beinahe wie ein Kind, streckte Riemenschneider Magdalena seine mit derbem Leinen bandagierten Unterarme entgegen, was ihm sichtlich Schmerzen bereitete.
»Meister Riemenschneider«, rief Magdalena, »ich hatte gehofft, Euch bei besserer Gesundheit anzutreffen!«
»Es geht mir gut«, spielte der alte Mann seinen Zustand herunter, doch aus seinen Worten klang unüberhörbare Bitterkeit.
»Wie könnt Ihr das behaupten?«, wandte Magdalena ein. »Eure Hände können kaum einen Meißel führen, wie könnt Ihr sagen, es gehe Euch gut?«
Da wurde Riemenschneider laut: »Selbst wenn ich noch einen Meißel halten könnte, glaubt mir, Jungfer, ich würde nie mehr ein Kunstwerk schaffen. Nicht für den römischen Papst, nicht für den Erzbischof Albrecht in Mainz, und schon gar nicht für Bischof Konrad da oben auf der Festung Marienberg. Kunst schaffen kann nur einer, der die Menschen liebt. Ich kann nur noch hassen.«
Magdalena erschrak über die offenen Worte des Künstlers. Aber wenn sie sich vor Augen führte, was Riemenschneider widerfahren war, konnte sie ihn verstehen.
»Reden wir von etwas anderem«, versuchte der Alte die Situation zu entspannen. »Auch Euch hat das Schicksal übel mitgespielt …«
»Ihr wisst …?«
»Alle Welt redet vom Tod des Seiltänzers und davon, dass er einem Attentat zum Opfer fiel. Wer tut so etwas?«
»Ja, wer tut so etwas?«, wiederholte Magdalena nachdenklich. Und fügte unvermittelt hinzu: »Meister Riemenschneider, habt Ihr nicht ein Epitaph für Abt Trithemius geschlagen?«
Es schien, als sei Riemenschneider die Frage unangenehm, denn er schwieg beharrlich. So lange, bis sein Sohn Jörg sich einmischte: »Vater, hast du nicht gehört, was Magdalena fragte?«
»Ich bin doch nicht taub!«, knurrte Riemenschneider beleidigt. Und an Magdalena gewandt: »Es ist beinahe zehn Jahre her, da rief mich Abt Trithemius in die Abtei Sankt Jakobus und gab mir den Auftrag für ein Epitaph. Ich wunderte mich, denn der Abt strotzte vor Gesundheit. Wozu, dachte ich, braucht er ein Epitaph? Aber er zahlte gut und im Voraus, also begann ich mit meiner Arbeit. Ich konnte nicht ahnen, wie viel Ärger mir der Auftrag bereiten würde.«
»Ein Epitaph, das Ärger bereitet?« Magdalena sah den alten Riemenschneider erwartungsvoll an.
»Trithemius redete mir andauernd in meine Arbeit drein. Er wollte, dass ich ihn mit einem Buch in der rechten Hand darstelle.Also lieferte ich ihm eine Skizze. Aber er bestand darauf, ein aufgeschlagenes Buch in der Hand zu halten. Meinen Einwand, dies widerspreche
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