Die Frau des Seiltaenzers
Aufregung. Jetzt plagte sie das schlechte Gewissen: Hatte sie das Recht, in diesen Büchern zublättern, Büchern, deren Inhalt geeignet war, die Welt zu verändern?
Mit Staunen, bisweilen mit Bangen las sie die Überschriften einzelner Kapitel:
Der Mensch lernt fliegen wie die Engel des Himmels
Wo die Gebeine unseres Herrn Jesus gefunden werden
Der wahre Grund für die Kreuzzüge
Tiere und Pflanzen, die im Dunkeln leuchten
Wie verlorene Gliedmaßen zum Nachwachsen gebracht werden
Die Wunder des Alten Testaments sind keine Wunder, sondern Ereignisse, deren Ursache vergessen ist
Wir brauchen keine Nahrung, sondern ernähren uns aus der Luft
Das Errechnen der Todesstunde eines jeden Menschen
Wo der Schatz der Templer verborgen ist
Das brennende Wasser des Hephaistos
Wie man weißes Gold macht
Wie man die menschliche Fortpflanzung verhindert, ohne sich der Fleischeslust zu enthalten
Von anderen Bewohnern des Universums
Wie Töne, Musik und Sprache über Jahrhunderte aufbewahrt werden
Das Geheimnis des Pyramidenbaus
Schiffe, die nicht auf, sondern unter dem Wasser fahren
Wo war der Hinweis auf das Elixier?
In Gedanken war Magdalena weit weg, in einer Welt der Magie und Hexerei, einer Welt wundersamer Ereignisse, als Schweinehirt sie plötzlich an der Schulter berührte.
»Ich habe gerade in eine andere Welt geschaut«, sagte sie andächtig und reichte Wendelin das achte Buch, das sie in Händen hielt.
»Eine bessere Welt?«, fragte Wendelin.
Magdalena hob die Schultern.
Bei ihren Erkundungen am Tag zuvor hatten sie am Ostchor des Doms eine eisenbeschlagene Türe entdeckt, deren ursprünglicher Verwendungszweck wohl vergessen war. Der Mauerdurchlass war so schmal, dass keiner der feisten Domherren hindurchpasste, für Magdalena und Wendelin jedoch gerade noch breit genug, um sich seitlich hindurchzuzwängen. Hinzu kam, dass die Türe kein Schloss hatte und nur von innen mit einem Riegel verschlossen war.
So gelangten sie, während die Domglocken schon zur Frühmesse riefen, mit den Büchern ins Freie.
Bei ihrer Rückkehr lugte die Pfisterin hinter dem Fenster hervor. Magdalena befürchtete, sie würde sie zur Rede stellen, wo sie die Nacht verbracht hätten und was sie da herbeischleppten. Aber entgegen ihren Erwartungen erreichten sie unbehelligt ihre Kammer unter dem Dach.
Doch wohin mit den Büchern?
In der Kürze der Zeit – nie hätten sie geglaubt, bereits am zweiten Tag fündig zu werden – hatten sie verabsäumt, ein sicheres Versteck auszukundschaften. Es fehlte nicht viel, und Magdalena und Wendelin wären über das weitere Vorgehen in heftigen Streit geraten.
Magdalena schlug vor, die Bücher in den Strohsäcken zu verstecken, mit denen ihre Bettkästen ausgelegt waren. Dafür schalt Wendelin sie einen Einfaltspinsel. Aber noch bevor Magdalena zornentbrannt auf ihn losgehen und ihm die Augen auskratzen konnte, entschuldigte er sich für seine unüberlegten Worte. Die Aufregung sei einfach zu groß, um noch einen klaren Gedanken zu fassen.
Magdalena nahm auf dem einzigen Stuhl Platz, und Schweinehirt schritt, die Arme auf dem Rücken verschränkt, in der Kammer auf und ab, sieben Schritte hin, sieben Schritte zurück. Er dachte nach.
»Muss das sein?«, zischte Magdalena gereizt, nachdem eine bestimmte Bohle des Bretterbodens ein ums andere Mal ein Knarren von sich gab.
Schweinehirt hielt inne und sah Magdalena an, als hätte sie ihm gerade eine bedeutsame Eröffnung gemacht. Dann zog er aus seinem Reisesack ein Messer hervor, und mit wenigen Handgriffen hebelte er das Dielenbrett heraus. Darunter lag ein vor Staub und Mäusekot strotzender Hohlraum, Platz genug für die doppelte Anzahl Bücher.
»Bis wir entschieden haben, wie es weitergehen soll«, sagte er, »gibt es kein sichereres Versteck für die Bücher.«
Magdalena reichte Wendelin ein Buch nach dem anderen. Als alle unter den Dielenbrettern verstaut waren, setzte er die Bohle wieder ein, ohne Spuren zu hinterlassen.
Magdalena atmete auf.
»Zufrieden?«, erkundigte sich Schweinehirt.
Magdalena ging nicht auf die Frage ein und meinte: »Ich befürchte, die Bücher werden uns noch schlaflose Nächte bereiten. An ihrem Inhalt sind zu viele interessiert: Da sind Erzbischof Albrecht von Brandenburg und Giustiniani, der Legat des Papstes. Die beide hoffen, damit reich zu werden. Außerdem der undurchsichtige Doktor Faust. Und wer weiß, wer sonst noch daran interessiert ist? Nicht zu vergessen die Neun Unsichtbaren! Ich
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