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Die Frau des Seiltaenzers

Die Frau des Seiltaenzers

Titel: Die Frau des Seiltaenzers Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Philipp Vandenberg
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wärst du dann wohl das erste weibliche Wesen in einer Dombauhütte, und die hohen Herren würden deine Arbeit als Gotteslästerung betrachten.«
    Magdalena ging nicht näher auf Schweinehirts Worte ein und mahnte zur Eile: »Nicht mehr lange, und der Tag graut. Bis dahin muss alles gelaufen sein!«
    Schon schimmerte im Osten ein zartes Morgengrau durch die hohen Domfenster, und Magdalena und Wendelin hatten kaum mehr als die Hälfte der Gipsschicht, welche die Deckplatte auf dem Sarkophag festhielt, herausgekratzt.
    »Wir sollten jetzt versuchen, die Deckplatte mit der Brechstange anzuheben«, sagte Schweinehirt, ohne von der Arbeit aufzublicken. »Gips ist ein brüchiges Material. Vielleicht haben wir Glück.«
    An der Fußseite, knapp über dem Relief mit Papst Clemens, hatte Magdalena einen Spalt aus der Gipsschicht gekratzt, gerade so groß, dass man eine Hand hineinlegen konnte, und breit genug, um die Brechstange anzusetzen.
    Schweinehirt stellte den Holzbock davor. Er sollte als Auflage für die Brechstange dienen. Dann rammte er das Werkzeug in den Spalt und lehnte sich mit seinem vollen Körpergewicht über das Ende der Eisenstange.
    Entweder war die Deckplatte zu schwer, oder die verbliebene Gipsschicht hielt sie noch immer fest auf ihrem Sockel.
    Magdalena und Wendelin sahen sich an. Die anstrengende Arbeit hatte ihnen den Schweiß in die Gesichter getrieben. Keiner sagte ein Wort. Mit einem Wink forderte Magdalena Schweinehirt auf, er solle es noch einmal versuchen. Sie selbst setzte zusätzlich ihr Körpergewicht ein.
    Da, plötzlich ein Krachen, ein Knirschen und Mahlen, und wie von starker Hand im Innern emporgestemmt, hob sich der Deckel des Sarkophags einseitig eine Elle nach oben.
    Geistesgegenwärtig klemmte Magdalena einen Hammerstiel in die entstandene Lücke. Dann zog Schweinehirt seine Brechstange zurück.
    Mit der Laterne leuchtete Magdalena in den Sarkophag. Unter einem dünnen Tuch, das aussah wie ein Gespinst von tausend Spinnweben, erkannte sie die Umrisse eines Menschen. Er lag mit gefalteten Händen auf dem Rücken, schmucklos, armselig. Wurde so ein Papst bestattet?
    »Was siehst du?«, drängte Wendelin.
    »Nichts«, antwortete Magdalena, »außer die Leiche eines Papstes. Von den ›Büchern der Weisheit‹ keine Spur.« Dann zog sie den Kopf zurück und reichte Schweinehirt die Laterne.
    Schließlich verschwand Schweinehirt mit dem Oberkörper im Sarkophag. Als er nach Minuten wieder auftauchte, hielt er einen verstaubten Packen in der Hand, an einer Seite zusammengeheftete,zum Teil gewellte Pergamentblätter. Dem ersten folgte ein zweiter, ein dritter … am Ende waren es neun Bücher, unterschiedlich gut erhalten: die neun ›Bücher der Weisheit‹.
    Andächtig legte Magdalena eines neben das andere. Sie brachte kein Wort hervor, stand unter Schock, fassungslos: Was tust du da? Sie glaubte, ihre eigene Stimme zu hören: »Die ›Bücher der Weisheit‹ werden dir kein Glück bringen.«
    Es war wie eine Erlösung, als Schweinehirts vertraute Stimme sie aus ihrem tranceartigen Zustand riss: »Draußen ist es schon hell. Wir müssen zusehen, dass wir hier wegkommen!«
    »Ja«, antwortete Magdalena leise.
    Um die Spuren ihres Einbruchs zu verwischen, verschlossen sie den Sarkophag wieder, fegten den angefallenen Schutt mit bloßen Händen zusammen und leerten die Reste in Magdalenas Haube. Dann brachten sie die Gipsreste und das entwendete Werkzeug zurück in die Krypta, mischten den Schutt unter den Haufen Bruchsteine und legten das Werkzeug an der Stelle ab, von der sie es genommen hatten. Auf diese Weise hofften sie, ihr Eindringen würde nicht sofort, vielleicht erst nach Tagen entdeckt werden. Bis dahin würden sie mit den Büchern über alle Berge sein.
    Zurück im Westchor des Doms hob Magdalena ein Buch nach dem anderen auf, befreite es vom Staub und blätterte in den vergilbten Seiten. Es würde nicht einfach sein, die in unterschiedlichen Sprachen geschriebenen Texte zu lesen. Nur wenige waren in deutscher Sprache abgefasst – diese dazu noch in einem altertümlichen Dialekt. Die meisten Schreiber hatten die lateinische Sprache bevorzugt, das Italienische, Englische und die Franzosensprache. Auch in Kirchengriechisch, der Sprache der Evangelien, und Arabisch, dessen Schriftzeichen ihr so fremd waren wie der neu entdeckte Kontinent America, waren ganze Seiten abgefasst.
    Die wenigen Überschriften, die ihr beim flüchtigen Blättern ins Auge stachen, versetzten sie in

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