Die Frau des Seiltaenzers
warf Rudolfo, der im Stand mit rudernden Armen versuchte das Gleichgewicht zu halten, zwei brennende Fackeln zu. Er wusste, nach sechs Minuten würden die Fackeln niedergebrannt sein und ihren Dienst als Balancierhilfe versagen. Besorgt blinzelte Magdalena in die tief dahinjagenden, grauschwarzen Wolken und schickte – vielleicht, weil sie es noch immer aus dem Kloster gewohnt war – ein Stoßgebet zum Himmel, dass alles gut gehen möge. Da begann der Seiltänzer sein gewagtes Abenteuer.
Selbst aus der Entfernung konnte Magdalena die Anstrengung in seinem Gesicht erkennen, und sie glaubte ein Schnauben zu vernehmen, das er in kurzen Abständen ausstieß wie ein unwilliger Gaul unter der Peitsche des Fuhrknechts. Bedächtig zuerst, aber nach zehn, zwölf Schritten immer schneller werdend, setzte er einen Fuß vor den anderen, nicht gerade ausgerichtet, wie er es gewohnt war, sondern schräg, sodass das Seil über die Mitte der Fußsohle zwischen Ferse und Zehenballen verlief.
Warum tut er das?, fragte sich Magdalena, die dem Schauspiel mit gefalteten Händen folgte.
Je weiter sich der Seiltänzer von seinem Ausgangspunkt entfernte, desto wilder wurden seine Bewegungen, weil das Seil zu schwanken begann wie ein Baumwipfel im Herbstwind. Die Fackeln an seinen ausgestreckten Armen flackerten bedrohlich, und mehr als einmal liefen die weiten Ärmel seines Umhangs Gefahr, Feuer zu fangen.
Der Lärm und das aufgeregte Geschrei, das eben noch über den Marktplatz gehallt hatte, wurde schwächer. Beinahe andächtig verfolgten die Gaffer jeden Schritt des Seiltänzers, der sich in seinem flatternden weißen Gewand wie eine Geistererscheinung vom düsteren Himmel abhob.
»Ich glaube«, raunte Erasmus von Rotterdam, der das Schauspiel mit verschränkten Armen verfolgte, Agrippa von Nettesheim zu, »ich glaube, da lagen wir wohl falsch mit unseren Anschuldigungen.«
»Das sagt gar nichts«, zischte der durch die Zähne, den Blick starr nach oben gerichtet, wo der Seiltänzer mit dem Gleichgewicht kämpfte. Und mit erhobenem Zeigefinger fügte er hinzu: »Noch ist er nicht am Ziel!«
»Ihr könnt den Quartus nicht besonders leiden, das sehe ich doch recht?«
»Und Ihr?«, fragte Agrippa zurück, um sich eine eindeutige Antwort zu ersparen.
Auch Erasmus ließ die Antwort offen, indem er sagte: »Immerhin wurde ihm sein geheimer Auftrag rechtmäßig übertragen.«
»Aber von einem, der sich unrechtmäßig der ›Bücher der Weisheit‹ bediente und damit auch noch öffentlich prahlte.«
»Dafür erhielt Trithemius seine gerechte Strafe! Dem Seiltänzer könnt Ihr jedenfalls nicht zum Vorwurf machen, dass er seine Kunst so bewundernswert beherrscht.«
»Ich mag ihn nicht!«, platzte es aus Agrippa heraus, »und ich will Euch auch sagen, warum: Dieser Seiltänzer passt einfach nicht zu uns. Er ist von bescheidener Bildung, und was kann er denn schon?«
»Seiltanzen«, erwiderte Erasmus knapp. »Das könnt Ihr nicht und ich nicht. Ihr könnt auch nicht malen wie Matthias Grünewald und so schamlos schöne Sonette schreiben wie Pietro Aretino. Und dass die Erde eine Kugel und keine Scheibe ist, habt weder Ihr noch ich zu behaupten gewagt. Kopernikus hat es getan!«
»Aber der Seiltänzer ist berühmter als wir alle. Wo immer er auftaucht, jubeln ihm die Menschen zu. Habt Ihr die leuchtenden Augen der Mainzer Bürger gesehen, als er aufs Seil stieg? Man könnte meinen, der Messias sei ihnen erschienen. Quartus sog ihren Beifall in sich auf wie die kühle Morgenluft. Er kennt nur sich. Rudolfo ist ein verabscheuungswürdiger Egoist!«
»Und Ihr und ich und wir alle von den Neun Unsichtbaren, sind wir keine Egoisten? Männer werden schon als Egoisten geboren. Und Männer, die etwas beherrschen, was andere nicht können, handeln die nicht aus Egoismus? Oder habt Ihr Euer berühmtes Werk ›Occulta Philosophia‹ für Euch selbst geschrieben? Nein, Ihr habt es geschrieben, um der Gegenwart und Nachwelt zu zeigen, was für ein toller Hund Ihr seid. Und ich? Ich selbst bin um keinen Deut besser. Ich habe mir das Gehirn aus dem Schädel geschrieben, ein Buch nach dem anderen, bis selbst meine Kritiker verstummten und den Hut vor mir zogen und mich den größten Gelehrten unserer Zeit nannten. Hätte mich mein Egoismus nicht dazu angetrieben, wäre ich noch heute der kleine Pfaffe im Dienste des Bischofs von Cambrai.«
Agrippa wedelte mit beiden Händen, Erasmus solle endlich aufhören. Einmal im Redefluss war gegen ihn nicht
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