Die Frau des Seiltaenzers
leisten.«
Die Unsichtbaren nickten zustimmend, und Rudolfo machte eine ausholende Handbewegung zum Zeichen seines Einverständnisses. In Wahrheit lief es ihm heiß und kalt über den Rücken, weil ihm bewusst wurde, dass er sein eigenes Todesurteil unterschrieben hatte.
Ein flüchtiger Gedanke galt Magdalena, die er, seit sich in Aschaffenburg ihre Wege getrennt hatten, nicht mehr gesehen hatte. Wie würde sie reagieren, wenn er sie von seinem Vorhaben in Kenntnis setzte? Aber dann, während sie dem Ausgang zustrebten, überwog wieder die Angst, und er verfluchte den Tag, an dem er sich zu Trithemius ins Kloster begeben und seine geheime Botschaft empfangen hatte.
Entgegen den strengen Gesetzen der Bruderschaft hatte Rudolfo von seinem Wissen aus den ›Büchern der Weisheit‹ gut gelebt. Fünf Tropfen des Elixiers, dessen Zusammensetzung verblüffend einfach war und von jedem Apotheker zusammengemischt werden konnte, hatten genügt, um ihn für kurze Zeit zu einem anderen Menschenzu machen, einem Menschen, der sich frei wie ein Vogel fühlte und sicher sein konnte, nicht vom hohen Seil zu stürzen.
Ungeachtet der Mittagshitze machten sich die Neun Unsichtbaren von Eberbach auf den Weg nach Mainz, Rudolfo und Erasmus zu Pferd, die übrigen in zwei Reisewagen. Auf halbem Weg befiel den Seiltänzer der Gedanke, seinem Gaul die Sporen zu geben und die Flucht zu ergreifen, unterzutauchen in den Wäldern des Taunus. Aber noch während er auf die passende Gelegenheit wartete, preschte Erasmus in scharfem Galopp an seine Seite und rief ihm zu, als könne er Gedanken lesen: »Solltet Ihr vorhaben zu fliehen, so würden wir das als Schuldeingeständnis betrachten. Und seid versichert, früher oder später würden wir Euch finden.«
Da verwarf er den Einfall und trabte widerstandslos und schicksalsergeben seinem sicheren Tod entgegen.
Ein Gewitter zog auf, als sie den Marktplatz erreichten, auf dem die Gaukler ihr Lager errichtet hatten. Das Seil zum Domturm war bereits gespannt. Steif und kühl verlief Rudolfos Wiedersehen mit Magdalena. Sie wagte nicht zu fragen, wo er sich aufgehalten hatte und wer die Männer waren, die jede seiner Bewegungen mit Misstrauen verfolgten. Wortlos gab sie dem Seiltänzer zu verstehen, dass sie glaubte, das seltsame Spiel zu durchschauen. Sogar als Rudolfo in seinem Gauklerwagen die Kleider wechselte und in das weiße Gewand schlüpfte, das er bei jedem Seiltanz trug, stand er unter Beobachtung zweier Zeugen.
Magdalenas Hoffnung, ein heftiger Gewitterregen würde den Gang über das Seil verhindern und die wartenden Zuschauer zurück in ihre Häuser treiben, erfüllte sich nicht. Der ersehnte Regen blieb aus, und das dumpfe Donnergrollen verzog sich ostwärts, wo es bald völlig verschwand. Im Gegenteil, immer mehr Menschen strömten herbei, aufgeregt lärmend ob des bevorstehenden Auftritts.
Mit reißerischen Worten kündigte der Marktschreier, auf einem Fass stehend und einen Blechtrichter vor den Mund haltend, diesensationellste Vorstellung an, welche das kurfürstliche Mainz und seine Bewohner je erlebt hätten.
Magdalena hatte dunkle Vorahnungen. Warum ließen die Männer Rudolfo nicht aus den Augen? Bizarre Bilder schossen ihr durch den Kopf. Sie sah den Seiltänzer auf halbem Weg am Seil hängen, vor Angst erstarrt, nicht vorwärts und nicht rückwärts kommend. Und fliegen sah sie ihn von der Spitze des Turmes, mit ausgebreitetem Umhang wie ein Adler, bis er hinter den Hausdächern verschwand. Magdalena wollte schon zu ihm eilen, aber sie hatte ihn in der Menge aus den Augen verloren. Wie angewurzelt stand sie da, wie ein Baum, unfähig sich zu bewegen, als sie hinter sich seine Stimme vernahm: »Magdalena!« Sie wandte sich um.
Rudolfo drängte sich durch die Gaffer, und als er sie endlich erreicht hatte, schloss er sie für einen kurzen Augenblick in die Arme. Dabei raunte er ihr ins Ohr: »Was auch immer geschehen mag, du sollst wissen, dass ich dich liebe.« Dann tauchte er wieder in der Menge unter.
Das Publikum wurde ungeduldig, erste Pfiffe und rhythmisches Klatschen hallten über den Platz. Ein ums andere Mal glitt Magdalenas Blick über das gespannte Seil nach oben und wieder zurück, als wollte sie selbst das Unmögliche in Angriff nehmen. Da löste sich der Seiltänzer in seinem weißen Gewand aus der Menge, und mit einem Satz schwang er sich auf das Seil.
Weiber jeden Alters begannen zu kreischen und drängten sich noch näher heran. Benjamino, der Jongleur,
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