Die Frau des Seiltaenzers
anzukommen.
Wind kam auf, und das Seil schwankte immer bedrohlicher. Eine heftige Böe löschte die Fackel in Rudolfos Rechten. Für einen Augenblick verlor er die Kontrolle über sein Gleichgewicht. Er drohte zu straucheln. Vom Marktplatz schallte ein kurzer, heftiger Aufschrei aus tausend Kehlen zu ihm herauf. Aber wie durch ein Wunder fand der Seiltänzer die Balance wieder.
Keiner von den Gaffern ahnte, was in Rudolfo vorging. Er hatte längst mit dem Leben abgeschlossen. Für ihn grenzte es an ein Wunder, wie er ohne das Elixier und trotz widriger Bedingungen so weit kommen konnte. Dabei stand der schwierigste Teil der Vorführung noch bevor, der Abstieg.
Vom Turmfenster trennten den Seiltänzer noch zwanzig Schritte, im täglichen Leben eine Entfernung, die man kaum wahrnimmt, auf einem schaukelnden Hanfseil aber, fast 300 Ellen über der Erde, ein endloser Pfad mit spitzen Steinen, die wie Messerklingen in die Fußsohlen schneiden. Inzwischen war auch die zweite Fackel erloschen, was Rudolfo jedoch eine gewisse Sicherheit verlieh.
Das Turmfenster fest im Blick, quälte sich der Seiltänzer Schritt für Schritt himmelwärts, als in der linken Fensterhälfte ein Lichtschein erglomm, der ihn irritierte. Dann kam eine Fackel zum Vorschein, von einer schmalen Hand gehalten, und schließlich ein von der Flamme beleuchtetes Gesicht.
Nach Luft ringend, stieß Rudolfo einen Schrei aus: »Magdalena!«
Magdalena streckte dem Seiltänzer ihre linke Hand entgegen: »Komm!«, rief sie leise, dass Rudolfo sie kaum hören konnte, »komm!«
»Ich muss auf dem Seil zurück!«, stammelte Rudolfo.
»Geh nicht zurück!«, erwiderte Magdalena eindringlich. »Du hast bewiesen, was du beweisen wolltest. Niemand erwartet, dass du den Weg auf dem Seil zurückgehst. Niemand, hörst du!«
Ein kurzes Zögern, noch drei, vier Schritte, dann ließ er die erloschenen Fackeln fallen und ergriff Magdalenas Hand.
Von tief unten brandete der Applaus herauf. Rudolfo, der sein Ziel mit letzter Kraft erreicht hatte, ließ sich auf dem Fenstersims nieder und winkte hinab in die Menge. Ein vielstimmiger Chor brach los: »Rudolfo, Rudolfo, du wundersamer Mann! Rudolfo, Rudolfo, wir beten dich an.«
Während der Seiltänzer huldvoll in die jubelnde Menge winkte – Papst Clemens VII. konnte kaum huldvoller grüßen –, schlang Magdalena von hinten die Arme um seinen Hals und raunte ihm ins Ohr: »Du warst großartig. Ich bin so stolz auf dich, auch wenn ich auf dem letzten Stück des Weges tausend Tode gestorben bin.«
Gott weiß, wie lange der Seiltänzer in der Pose des Siegers hoch über der Menschenmenge hätte verweilen müssen, hätten sich die dunklen Wolken nicht plötzlich entladen und den lange ersehnten Regen gebracht. Dicke Tropfen, groß wie Taubeneier, klatschten aufs Pflaster. Die Gesänge verstummten. Und die Mainzer drängten sich durch die stinkenden engen Gassen nach Hause. In Windeseile wuchs der Gewitterregen zu einem gewaltigen Unwetter. Den Fuhrknechten blieb nicht einmal Zeit, das Seil einzuholen.
Durch die offenen Fensterluken des Domturms heulte der Sturm. Jeden Augenblick konnte Magdalenas Fackel erlöschen. Mit sanfter Gewalt drängte Rudolfo Magdalena durch den schmalen Türbogen, von dem eine steile Holztreppe nach unten zu einem Zwischengeschoss führte. Er war noch immer erschöpft von der Anstrengung und zu benommen, um zu berichten, was eigentlich vorgefallen war.
Vielleicht, dachte er, wäre es sogar besser, der Geliebten zu verschweigen, dass er den Turm ohne Zuhilfenahme des wundertätigen Elixiers erklommen und eigentlich erwartet hatte, auf halbem Weg in den Tod zu stürzen. Warum dies nicht geschehen war und warum er unter den ungünstigsten Bedingungen, die einen Seiltänzer treffen können, sein Ziel erreicht hatte, dafür fand Rudolfo nur die vage Erklärung, dass er im Laufe der Jahre an Übung und Erfahrung gewonnen hatte. Doch gerade das verwirrte ihn. Ihm war etwas Bedeutsames gelungen, von dem er glaubte, es könne nurmit Mitteln der Alchimie oder mit dem Teufel im Bunde erreicht werden.
Während sie, ohne zu reden, auf den steilen Treppen abwärts kletterten, überfielen den Seiltänzer Angst- und Schwindelgefühle, von denen er nicht einmal in höchster Gefahr auf dem Seil etwas bemerkt hatte. Magdalena zeigte Verständnis, sie stellte auch keine Fragen, als Rudolfo sich auf der Treppe niederließ und den Kopf auf die verschränkten Arme senkte. Sie strich ihm nur zärtlich über das
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