Die Frau des Seiltaenzers
Laterne, die ein unruhiges Licht verbreitete.
Noch bevor der fürstbischöfliche Sekretär beginnen konnte, fuhr ihn Magdalena an. »Was ist so wichtig, dass Ihr mich zu nachtschlafender Zeit aus dem Bett holt? Sagt mir zuallererst, wo die Leiche Rudolfos verblieben ist.«
»Man hat sie ins Leichhaus außerhalb der Stadtmauer gebracht«, erwiderte Kirchner, »so, wie es Sitte ist bei Fremden, die in unserer Stadt den Tod finden.«
Magdalena stutzte. »Verstehe ich Euch recht, Ihr wollt, dass der Große Rudolfo, dem die Menschen zu Lebzeiten zugejubelt haben wie unserem Herrn Jesus bei der Palmprozession, in einem Grab außerhalb der Stadt verscharrt wird neben Gehenkten und Enthaupteten, anstatt ihm ein Denkmal zu errichten wie EurenFürstbischöfen? Wer hat das veranlasst? Etwa Euer Vater in Christo, Seine kurfürstliche Gnaden, der hochwürdigste Herr Albrecht von Brandenburg?«
»Nein. Den Auftrag gab Dompropst Johann von Schöneberg, in dessen Zuständigkeitsbereich sich das Unglück ereignet hat. Seine kurfürstliche Gnaden weiß noch gar nicht, dass der Seiltänzer seine Seele ausgehaucht hat. Er ist mit Matthäus Schwarz, dem Abgesandten des reichen Fuggers, zur Jagd in den Rheinauen um Lorch, wo beide auch die Nacht verbringen. Aber der Grund meines frühen Besuchs …«
»So redet schon!«, herrschte Magdalena Joachim Kirchner an.
»… der Grund meines frühen Besuchs ist folgender: Dompropst Johann von Schöneberg hat den Wunsch geäußert – genau genommen hat er den Befehl erteilt –, die Gaukler mögen in aller Herrgottsfrühe ihre Zelte auf dem Liebfrauenplatz abbrechen und noch vor Tagesanbruch aus Mainz verschwinden. So etwa pflegte sich Hochwürden auszudrücken.«
»So, so. Hochwürden pflegte sich so auszudrücken«, wiederholte Magdalena. Dabei presste sie ihre rechte Hand auf die Stelle an ihrem Hals, an der ihr Xeranthe die Verletzung zugefügt hatte.
»Hochwürden meinte«, fuhr Kirchner fort, »die Gaukler hätten schon genug Unruhe in die Stadt gebracht, und der Tod des Seiltänzers sei die gerechte Strafe Gottes, weil er sich hoffärtig über die göttlichen Gesetze hinweggesetzt und einen der Domtürme auf einem Hanfseil bestiegen habe, was kein gläubiger Christenmensch vermöge, es sei denn, er sei ein Nekromant und stehe mit dem Teufel im Bunde.«
Sogar im spärlichen Licht der flackernden Laterne war zu erkennen, dass Magdalenas Augen vor Zorn funkelten. »Und Ihr stimmt dem Dompropst zu?«
Kirchner hob die Schultern und schwieg.
»Der Einzige, mit dem die Gaukler im Bunde stehen«, bemerkte Magdalena hämisch, »ist Seine kurfürstliche Gnaden Albrecht vonBrandenburg, den Ihr ja wohl nicht als Teufel bezeichnen würdet. Ihr selbst habt das Abkommen zwischen ihm und den Gauklern vermittelt und mir fünfzig Gulden für unseren Auftritt ausgehändigt. Das habt Ihr doch hoffentlich nicht vergessen?«
»Gewiss nicht«, versuchte Kirchner die aufgebrachte Frau des Seiltänzers zu beschwichtigen. »Es ist nur – der Große Rudolfo ist doch tot und kann die trägen Mainzer Bürger nicht mehr auf den großen Platz vor dem Dom locken!«
In ihrer Wut und weil Menschen, in die Enge getrieben, zu seltsamen Entschlüssen fähig sind, erwiderte Magdalena gereizt: »Ach, ich verstehe. Dann werde eben ich auf das Seil steigen und den Turm erklimmen. Das wird nicht weniger Gaffer anlocken!«
Der Sekretär des Fürstbischofs warf Magdalena einen ungläubigen Blick zu, ob er sich nicht verhört habe und ob Magdalena, aufgebracht, ihn nicht hochnehmen, eine Posse spielen wollte. Aber dann bemerkte er ihren entschlossenen Gesichtsausdruck und entgegnete: »Das solltet Ihr besser bleiben lassen, wenn Euch Euer Leben lieb ist. Ihr würdet nicht weit kommen. Der Große Rudolfo verfügte über eine Fähigkeit, die nur wenigen gegeben ist.«
»Das lasst ruhig meine Sorge sein«, unterbrach Magdalena Kirchner, und in der Tat, sie meinte es ernst. Magdalena hatte das geheimnisvolle Elixier vor Augen, dessen Wirkung sich der Große Rudolfo bedient hatte. Auch er war, bevor er dieses Elixier benutzt hatte, nie über ein hohes Seil gegangen. Jetzt wollte sie es selbst versuchen. Sie wusste nicht, woher sie, einer plötzlichen Eingebung folgend, den Mut für dieses riskante Unternehmen nahm. Sie wusste nur, dass sie es tun würde.
»Und jetzt geht und sagt Eurem Dompropst, dass die Frau des Seiltänzers heute um die Mittagszeit denselben Weg auf dem Seil nehmen wird wie tags zuvor der Große
Weitere Kostenlose Bücher