Die Frau des Seiltaenzers
fürchtete, das Elixier könne ohne Wirkung bleiben, Rudolfo habe sie mit seinem okkulten Wissen an der Nase herumgeführt. Oft schon hatte sie an diesem Wissen gezweifelt und sich die Frage gestellt, warum ausgerechnet er , Rudolf Rettenbeck, Sohn eines Flickschusters und einer Bamberger Hebamme, dazu ausersehen sein sollte, Einblick in die geheimsten Dinge des Lebens zu erhalten.
Und doch – da war etwas, das sie dem Seiltänzer mit den magischen Fähigkeiten in die Arme getrieben hatte.
Während ihre Gedanken endlos um diese Fragen kreisten, merkte sie nicht, wie sie, schwerelos schwebend, in eine andere Welt wechselte, wie sich der Druck, der zeitlebens auf jedem Menschen lastet, allmählich verflüchtigte. Sie spürte unbändige Kräfte, die allein von ihren Gedanken ausgelöst wurden, Kräfte, die sie noch nie zuvor bemerkt hatte. Diese unerwartete Wendung und das damit verbundene Glücksgefühl, das ihren ganzen Körper durchströmte, verliehen Magdalena ungeahnte Kräfte und die Überzeugung, sie sei zu allem fähig, sie müsse es nur wollen.
So erschrak sie auch nicht, als sie Forchenborns geifernde Stimme vor dem Gauklerwagen vernahm und dieser die Türe aufriss und ihr wutschnaubend entgegenschleuderte: »Bist du verrückt geworden? Die Fuhrknechte haben ein neues Seil zum Turm gespannt. Sie vermuten, du willst auf den Turm balancieren, wie es der Große Rudolfo getan hat!«
»Ganz recht!«, erwiderte Magdalena gelassen, als sei das die selbstverständlichste Sache der Welt.
Der Marktschreier hielt die Hände vors Gesicht: »Mein Gott, sie hat den Verstand verloren!«
»Vielleicht hast du sogar recht«, antwortete Magdalena, »aber jetzt verschwinde, ich muss mich noch für meinen Auftritt umkleiden.« Dann schlug sie dem Marktschreier die Türe vor der Nase zu.
Während Magdalena ihr Kleid auszog und in eines der weißen Kostüme schlüpfte, von denen der Große Rudolfo ein halbes Dutzend in Besitz hatte, füllte sich der Liebfrauenplatz vor dem Ostchor des Doms mit mehr Menschen als am Tag zuvor. Sogar die Ablassprediger fanden ihre Zuhörer und brachten manchen Gulden in die fürstbischöfliche Kasse.
Von irgendwoher erschallte plötzlich der Ruf: »Wir wollen die Frau des Seiltänzers seiltanzen sehen!«, und im Nu grölten viele hundert Kehlen: »Wir wollen die Frau des Seiltänzers seiltanzen sehen!«
Ohne Zweifel an ihrem Vorhaben aufkommen zu lassen, trat Magdalena aus dem Gauklerwagen und blinzelte in die Sonne. Die Umstände um Rudolfos Tod, die Einwände des Marktschreiers und ihre eigenen Bedenken, das alles war im Augenblick weit weg. Sie verspürte nicht die geringste Angst. Und als ihr die Zwergenkönigin weinend in den Weg trat und sich an ihrem Seiltänzerkostüm festhielt wie ein Kläffer, der sich in seinen Widersacher verbissen hat, und als sie flehte, sie solle, bei der Heiligen Jungfrau, nicht auf das Seil steigen, da stieß sie die kleine Frau lächelnd von sich und schritt zielstrebig und mit erhobenem Haupt auf den Stadtbrunnen zu, an dem das Seil befestigt war.
Aus der Entfernung konnte man Magdalena mit ihrem kurzem Haar und den weißen Beinkleidern für einen fürstbischöflichen Knappen oder einen jugendlichen Pagen halten, doch aus der Nähe ließen ihr anmutiges Gesicht und ihre geschmeidige Gestalt kaum Zweifel an ihrer Weiblichkeit aufkommen.
Mit aufgesetztem Lächeln und starrem Blick drängte sich Magdalena zum Brunnen, die aufmunternden Zurufe, aber auch hämischen Bemerkungen missachtend. Angekommen, kletterte sie auf die marmorne Einfassung, richtete sich auf, und mit erhobenen Armen nahm sie den Beifall des Publikums entgegen.
Huldvoll, wie sie es bei Rudolfo abgeschaut hatte, verneigte sich Magdalena nach allen Seiten. Dabei blieb ihr Blick auf einer kleinen, untersetzten Gestalt haften, vielleicht nur deshalb, weil deren kahler, nur von einem Haarkranz eingerahmter Schädel in der Sonne glänzte. Von seiner Statur, aber auch was seine heruntergekommene Kleidung betraf, passte er nicht so recht zu den sieben vornehm gekleideten Männern, die einen Kreis um ihn bildeten, als wollten sie ihn vor den Gaffern beschützen.
Die Erscheinung des Mannes hatte sie gut im Gedächtnis behalten, doch Magdalenas Gedanken waren so sehr auf ihr Ziel ausgerichtet, dass es ihr schwerfiel, sich auf andere Dinge zu konzentrieren. Was die Männer untereinander beredeten, bekam sie im Lärm der Menge ohnehin nicht mit.
»Keine Angst«, meinte Primus, an den kleineren
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