Die Frau des Zeitreisenden
Ben von wo immer er gerade ist zurückkommt. Ich mag diese Gegend nicht sehr; irgendwie fühle ich mich ungeschützt, wie ich hier vor Bens Tür sitze, aber da er ein extrem pünktlicher Mensch ist, warte ich weiterhin vertrauensvoll. Zwei junge Latina-Frauen schieben ihre Kinderwagen den unebenen und gerissenen Gehweg entlang. Ich sinniere über die Ungerechtigkeit der Stadtverwaltung nach, da brüllt jemand in der Ferne »Bücherknecht!«. Ein Blick in Richtung der Stimme sagt mir, ja, es ist Gomez. Innerlich knirsche ich mit den Zähnen. Gomez besitzt das erstaunliche Talent, mir über den Weg zu laufen, wenn ich etwas besonders Verruchtes vorhabe. Ich muss ihn loswerden, bevor Ben auftaucht.
Gomez kommt fröhlich auf mich zugerauscht. Er ist in Anwaltskluft und trägt seine Aktentasche. Ich seufze.
»Ça va, Genosse.«
» Ça, va. Was machst du hier?«
Gute Frage. »Auf einen Freund warten. Wie spät ist es?«
»Viertel nach zehn. Der 6. September 1993«, fügt er hilfreich hinzu.
»Ich weiß, Gomez. Trotzdem vielen Dank. Besuchst du einen Klienten?«
»Ja. Ein zehnjähriges Mädchen. Der Freund ihrer Mutter hat sie gezwungen, Abflussreiniger zu trinken. Langsam hab ich die Menschen wirklich satt.«
»Klar. Zu viele Irre, nicht genug Michelangelos.«
»Schon zu Mittag gegessen? Vielmehr gefrühstückt, sollte man wohl sagen?«
»Ja. Ich muss noch ein Weilchen hier bleiben, auf meinen Freund warten.«
»Ich wusste gar nicht, dass du Freunde hast, die in der Gegend wohnen. Ich kenne hier nur Leute, die dringend Rechtsberatung brauchen.«
»Ein alter Freund aus der Bibliothekarsschule.« Und da kommt er auch schon. Ben fährt in seinem silbernen 62er-Mercedes vor. Im Inneren sieht das Auto verheerend aus, aber von außen ist es ein reizendes Modell. Gomez pfeift leise.
»Tut mir Leid, dass ich zu spät komme«, sagt Ben und eilt den Gehweg entlang. »Hausbesuch.«
Gomez mustert mich neugierig, aber ich ignoriere ihn. Ben sieht Gomez an und dann mich.
»Gomez, das ist Ben. Ben, das ist Gomez. Wie schade, dass du gehen musst, Genosse.«
»Um ehrlich zu sein, ich hätte ein paar Stunden frei...«
Ben nimmt die Sache in die Hand. »Gomez. Hat mich wirklich sehr gefreut. Ein andermal, ja?« Ben ist ziemlich kurzsichtig und späht Gomez durch dicke Brillengläser, die seine Augen winzig klein erscheinen lassen, freundlich an. Er klimpert mit den Schlüsseln in der Hand. Mich macht das nervös. Wir stehen beide ruhig da, warten darauf, dass Gomez geht.
»Na schön. Gut. Also, Wiedersehen.« Gomez gibt sich geschlagen.
»Ich ruf dich heute Nachmittag an«, sage ich. Er dreht sich um, ohne mich eines Blickes zu würdigen, und geht weg. Ich fühle mich mies, aber es gibt Dinge, die Gomez nicht unbedingt erfahren muss, und das hier ist eins davon. Ben und ich wenden uns einander zu, wechseln einen Blick, der die Tatsache anerkennt, dass wir einiges voneinander wissen, was nicht ganz unproblematisch ist. Er öffnet die Eingangstür. Mich hat es immer gereizt, mein Glück zu versuchen und in Bens Wohnung einzubrechen, weil er über eine große Anzahl und Vielfalt an Schlössern und Sicherheitsvorrichtungen verfügt. Wir treten in den dunklen schmalen Flur. Immer riecht es hier nach Kohl, obwohl ich ganz sicher weiß, dass Ben nicht oft kocht, geschweige denn Kohl. Wir gehen nach hinten zur Treppe, steigen hoch in einen anderen Flur, durch ein Schlafzimmer und in ein zweites, das Ben als Labor eingerichtet hat. Er stellt seine Tasche ab, hängt die Jacke auf. Ich rechne halbwegs damit, dass er gleich Tennisschuhe anzieht, ä la Mr Rogers, doch stattdessen werkelt er an seiner Kaffeemaschine herum. Ich setze mich auf einen Klappstuhl und warte, bis er fertig ist.
Ben sieht, mehr als jeder andere meiner Bekannten, wie ein Bibliothekar aus. Im Übrigen habe ich ihn tatsächlich am Rosary College kennen gelernt, allerdings brach er vor dem Abschluss ab. Seit unserem letzten Treffen ist er dünner geworden, hat er noch mehr Haare verloren. Ben hat Aids, und immer wenn ich ihn treffe, achte ich darauf, weil ich nie weiß, wie’s mit ihm weitergeht.
»Du siehst gut aus«, sage ich zu ihm.
»Hohe Dosen Retrovir. Und Vitamine, Yoga, Visualisierungen usw. Wo wir gerade dabei sind. Was kann ich für dich tun?«
»Ich will heiraten.«
Ben sieht überrascht aus, dann freut er sich. »Herzlichen Glückwunsch. Und wen?«
»Clare. Du kennst sie. Das Mädchen mit den langen roten Haaren.«
»Ach, tatsächlich?« Ben
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