Die Frau des Zeitreisenden
gehen die Halsted Street entlang in südlicher Richtung zur Belmont Avenue. Ich will Ingrid nicht sehen. Ich bin ihr zum ersten und letzten Mal beim Konzert der Violent Femmes begegnet, und das reicht mir.
»Natürlich findet sie das gut. Ingrid war sehr neugierig auf dich.« Wir biegen in die Belmont ein, gehen vorbei an Tattoo-Studios, indischen Restaurants, Ledergeschäften und Ladenkirchen. Wir gehen unter der Hochbahn hindurch, und da ist das Berlin. Von außen sieht es nicht sehr verführerisch aus; die Fenster sind schwarz gestrichen, und Discomusik pulsiert aus der Dunkelheit hinter dem dünnen sommersprossigen Kerl, der sich von mir, nicht aber von Celia, den Ausweis zeigen lässt, uns einen Stempel auf die Hand verpasst und gnädigerweise die Hölle betreten lässt.
Kaum haben sich meine Augen angepasst, stelle ich fest, dass der ganze Schuppen voll Frauen ist. Frauen, die sich um die winzige Bühne drängen und Zusehen, wie eine Stripperin in einem roten, mit Pailletten besetzten G-String und Nippelquasten umherstolziert. Frauen, die an der Bar lachen und flirten. Es ist Ladys’ Night. Celia schleppt mich an einen Tisch. Ingrid sitzt allein da, vor sich ein hohes Glas mit himmelblauer Flüssigkeit. Sie blickt auf, und ich merke, dass meine Anwesenheit sie nicht besonders erfreut. Celia küsst Ingrid und bedeutet mir, mich zu setzen. Ich bleibe stehen.
»Hey, Baby«, sagt Celia zu Ingrid.
»Das soll wohl ein Witz sein«, sagt Ingrid. »Wozu hast du die mitgebracht?« Sie ignorieren mich beide. Celia hat meine Bücher immer noch unterm Arm.
»Schon gut, Ingrid, sie ist in Ordnung. Ich dachte mir, ihr würdet euch vielleicht gern näher kennen lernen, nichts weiter.« Celia klingt fast, als wollte sie sich entschuldigen, aber selbst ich sehe, dass sie Ingrids Unwohlsein auskostet.
Ingrid funkelt mich böse an. »Wieso bist du gekommen? Um dich zu brüsten?« Sie lehnt sich im Stuhl zurück und reckt ihr Kinn in die Luft. Ingrid sieht aus wie ein blonder Vampir, schwarze Samtjacke und blutrote Lippen. Sie ist hinreißend. Ich komme mir vor wie ein Schulmädchen aus der Kleinstadt. Schließlich strecke ich die Hände zu Celia aus, und sie gibt mir meine Bücher zurück.
»Man hat mich gezwungen. Aber jetzt geh ich.« Ich will mich gerade umdrehen, da schießt Ingrids Hand vor und umklammert meinen Arm.
»Warte mal...« Sie reißt meine linke Hand zu sich, so dass ich stolpere und meine Bücher durch die Luft fliegen. Ich ziehe meine Hand zurück, und Ingrid sagt: »... du bist verlobü«, und da wird mir klar, dass sie Henrys Ring anstarrt.
Ich sage nichts. Ingrid wendet sich an Celia. »Das hast du gewusst, oder?« Celia blickt nach unten auf den Tisch und schweigt. »Du hast sie hierher gebracht, um es mir unter die Nase zu reiben, du Miststück.« Sie spricht leise. Über die pulsierende Musik kann ich sie kaum verstehen.
»Nein, Ing, ich wollte nur...«
»Verfick dich, Celia.« Ingrid steht auf. Einen Augenblick lang ist ihr Gesicht dicht vor meinem, und ich stelle mir vor, wie Henry ihre roten Lippen küsst. Sie starrt mich an und faucht: »Sag Henry, er soll zur Hölle fahren. Und sag ihm, ich werd ihn dort treffen.« Sie schleicht hinaus. Celia sitzt da und hält ihr Gesicht in den Händen.
Langsam sammle ich meine Bücher auf. Als ich mich zum Gehen anschicke, sagt Celia: »Warte.«
Ich warte.
Celia sagt: »Es tut mir Leid, Clare.« Ich zucke mit den Achseln, gehe zur Tür, und als ich mich umdrehe, sitzt Celia allein am Tisch, nippt an Ingrids blauem Drink, ihr Gesicht an eine Hand gelehnt. Sie sieht nicht in meine Richtung.
Auf der Straße gehe ich immer schneller, bis ich bei meinem Auto bin, und dann fahre ich nach Hause, stürze in mein Zimmer, lege mich aufs Bett und wähle Henrys Nummer, aber er ist nicht da. Ich schalte das Licht aus und kann nicht schlafen.
BESSER LEBT SICH’S MIT CHEMIE
Sonntag, 5. September 1993 (Clare ist 22, Henry 30)
Clare: Henry studiert seine eselsohrige Ausgabe des Physicians’ Desk Reference. Kein gutes Zeichen.
»Mir war nie klar, dass du so ein Drogenfanatiker bist.«
»Ich bin kein Drogenfanatiker. Ich bin Alkoholiker.«
»Bist du nicht.«
»Doch, natürlich.«
Ich mache mich auf dem Sofa lang und lege die Beine über seinen Schoß. Henry stellt das Buch auf meinen Schienbeinen ab und blättert darin weiter.
»So viel trinkst du gar nicht.«
»Früher schon. Seit der Alkoholvergiftung trete ich etwas kürzer. Außerdem ist mein Dad ein
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