Die Frau des Zeitreisenden
trauriges Beispiel.«
»Was suchst du denn?«
»Ein Mittel, das ich zur Hochzeit nehmen kann. Ich möchte dich nicht vor vierhundert Leuten allein vor dem Altar stehen lassen.«
»Klar. Gute Idee.« Ich stelle mir das Szenario vor und erschaudere. »Wir reißen einfach aus.«
Er begegnet meinem Blick. »Abgemacht. Ich bin dabei.«
»Meine Eltern würden mich verstoßen.«
»Bestimmt nicht.«
»Du hast nicht richtig aufgepasst. Hier geht es um eine große Broadway-Produktion. Für meinen Dad sind wir nur ein Anlass, um großzügig Hof zu halten und Eindruck bei seinen Anwaltskollegen zu schinden. Wenn wir die Biege machen, müssten meine Eltern Schauspieler engagieren, die unsere Rollen übernehmen.«
»Wir gehen ins Rathaus und heiraten vorher. Falls dann was passiert, sind wir wenigstens schon mal verheiratet.«
»Ach, aber das fände ich nicht schön. Das wäre ja gelogen, ich käme mir komisch vor. Wir heben uns das für hinterher auf, falls die richtige Hochzeit irgendwie platzt.«
»Gut. Plan B.« Er hält mir die Hand hin, ich schlage ein.
»Findest du denn was Brauchbares?«
»Tja, ideal wäre ein Neuroleptikum, das sich Risperdal nennt, aber es kommt erst 1994 auf den Markt. Das Nächstbeste wäre Clorazil, und eine dritte Möglichkeit Haldol.«
»Klingt alles nach hochmodernen Hustenmitteln.«
»Sind aber Antipsychotika.«
»Im Ernst?«
»Ja.«
»Du bist doch nicht psychotisch.«
Henry sieht mich an, zieht eine grässliche Fratze und kratzt in die Luft wie ein Werwolf im Stummfilm. Dann sagt er sehr ernst: »Auf einem EEG hab ich das Gehirn eines Schizophrenen. Schon mehrere Ärzte haben behauptet, dass mein kleiner Zeitreisenwahn auf Schizophrenie zurückzuführen sei. Diese Mittel blockieren die Dopaminrezeptoren. «
»Nebenwirkungen?«
»Nun... Dystonie, Akathisie, Pseudo-Parkinson. Das heißt, unwillkürliche Muskelkontraktionen, Unruhe, abrupte Bewegungen, Schlaflosigkeit, Teilnahmslosigkeit, mimische Starre. Als dann wären da noch dystone Reaktionen mit chronisch unkontrollierbarer Gesichtsmuskulatur, dann Agranulazytose, also die Unfähigkeit, weiße Blutkörperchen zu produzieren. Nicht zu vergessen eine deutliche Verminderung der Sexualfunktion. Und die Tatsache, dass alle derzeit erhältlichen Medikamente leicht sedativ wirken.«
»Du denkst hoffentlich nicht ernsthaft daran, etwas von dem Zeug zu nehmen, oder?«
»Haldol hab ich früher schon genommen. Und Propafenin.«
»Und...?«
»Ein Horror. Ich war ein totaler Zombie. Mein Gehirn hat sich angefühlt wie eine Schüssel voll Klebstoff.«
»Gibt es denn nichts anderes?«
»Valium. Librium. Xanax.«
»Die nimmt Mama. Xanax und Valium.«
»Klar, das wäre ganz sinnvoll.« Er zieht eine Grimasse, legt den Physicians’ Desk Reference beiseite und sagt: »Rutsch mal.« Wir rücken auf dem Sofa hin und her, bis wir Seite an Seite liegen. Sehr kuschelig.
»Nimm nichts von den Sachen.«
»Warum nicht?«
»Du bist doch nicht krank.«
Henry lacht. »Genau dafür liebe ich dich: Deine Unfähigkeit, meine grässlichen Fehler wahrzunehmen.« Er knöpft meine Bluse auf, und ich lege meine Hand auf die seine. Er sieht mich an und wartet. Ich bin leicht verärgert.
»Mir will nicht in den Kopf, warum du so redest. Immer sagst du schreckliche Sachen über dich. Dabei bist du gar nicht so. Du bist ein guter Mensch.«
Henry betrachtet meine Hand, befreit sie aus meinem Griff und zieht mich dichter zu sich. »Ich bin kein guter Mensch«, sagt er mir leise ins Ohr. »Aber vielleicht werde ich bald einer sein, hmmm?«
»Wehe wenn nicht.«
»Zu dir bin ich jedenfalls gut.« Das stimmt. »Clare?«
»Hmmm?«
»Liegst du nicht manchmal wach und fragst dich, ob ich nur ein Streich bin, den Gott dir spielt?«
»Nein. Ich liege wach und habe Angst, du könntest verschwinden und nicht mehr wiederkommen. Ich liege wach und grüble über einige Dinge nach, die ich so halbwegs über die Zukunft weiß. Aber ich glaube ganz fest daran, dass wir zusammen gehören.«
»Ganz fest.«
»Du nicht?«
Henry küsst mich. »>Nicht Zeit noch Ort, nicht Zufall und nicht Tod/kann mich in meinen Wünschen schwanken machen<.«
»Noch mal?«
»Meinetwegen jederzeit.«
»Angeber.«
»Und wer sagt jetzt schreckliche Dinge über mich?«
Montag, 6. September 1993 (Henry ist 30)
Henry: Ich sitze auf der Treppe eines schmutzigen weißen, mit Aluminium verkleideten Hauses im Stadtviertel Humboldt Park. Es ist Montagmorgen, gegen zehn. Ich warte, dass
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