Die Frau des Zeitreisenden
Nähe macht es mir schwer, mich zu konzentrieren.
»Und hab ich dir Sachen erzählt?«, fragt er.
»Manchmal. Wenn du Lust hattest, oder wenn du musstest.«
»Zum Beispiel?«
»Na bitte! Du willst es doch wissen. Aber ich verrate nichts.«
Henry lacht. »Geschieht mir recht. Hey, ich hab Hunger. Lass uns was zum Frühstück holen.«
Draußen ist es kühl. Autos und Fahrräder fahren die Dearborn entlang, auf den Gehsteigen schlendern Pärchen, und wir sind mitten unter ihnen, in der Morgensonne, Hand in Hand, endlich zusammen und für jedermann sichtbar. Ein leises Bedauern überkommt mich, als hätte ich ein Geheimnis verloren, und dann ein jähes Hochgefühl: Nun fängt alles an.
ES GIBT IMMER EIN ERSTES MAL
Sonntag, 16. Juni 1968
Henry: Das erste Mal war magisch. Woher hätte ich wissen sollen, welche Bedeutung es hatte? Es war mein fünfter Geburtstag, und wir gingen ins Field Museum of Natural History. Ich glaube, es war mein erster Besuch im Field Museum. Meine Eltern hatten mir die ganze Woche erzählt, welche Wunder es dort zu bestaunen gab, die ausgestopften Elefanten in der hohen Eingangshalle, die Dinosaurierskelette, die Dioramen mit den Höhlenmenschen. Mom, die gerade aus Sydney zurückgekehrt war, hatte mir einen gewaltigen, unglaublich blauen Schmetterling mitgebracht, Papilio ulysses, präpariert in einem mit Watte gefüllten Rahmen. Dauernd hielt ich ihn dicht vor mein Gesicht, so dicht, dass ich nur noch Blau sah. Es erfüllte mich mit einem Gefühl, das ich später durch Alkohol wiederholen wollte und schließlich bei Clare wiederfand, ein Gefühl von Einheit, Vergessenheit und Leichtigkeit im besten Sinne des Wortes. Meine Eltern beschrieben die zahllosen Schaukästen mit Schmetterlingen, Kolibris, Käfern. Ich war so aufgeregt, dass ich schon vor Tagesanbruch erwachte. Im Schlafanzug zog ich mir die Turnschuhe an, nahm meinen Papilio ulysses, ging hinten in den Garten und die Treppe hinunter zum Fluss. Dort setzte ich mich auf den Anleger und sah zu, wie es hell wurde. Eine Entenfamilie schwamm vorbei, und auf dem Anleger am anderen Flussufer erschien ein Waschbär und musterte mich neugierig, ehe er sein Frühstück im Wasser wusch und verschlang. Vielleicht war ich eingeschlafen. Irgendwann hörte ich Mom rufen und rannte die vom Tau glitschigen Stufen hoch, vorsichtig darauf bedacht, den Schmetterling nicht fallen zu lassen. Sie war verärgert, weil ich allein zum Anleger gegangen war, machte aber keine große Sache daraus, denn es war ja mein Geburtstag.
Beide mussten sie am Abend nicht arbeiten, deshalb dauerte es eine Weile, bis sie angezogen und startbereit waren. Ich war lange vor ihnen fertig. Ich saß auf ihrem Bett und tat, als wenn ich eine Partitur lesen würde. Etwa um diese Zeit entdeckten meine Musikereltern, dass in ihrem einzigen Sprössling keine musikalische Begabung schlummerte. Nicht dass ich mir keine Mühe gegeben hätte, aber ich hörte aus einem Musikstück einfach nicht das Gleiche heraus wie sie. Ich mochte Musik, konnte aber kaum einen Ton halten. Und obwohl ich schon mit vier Zeitung lesen konnte, sah ich in einer Partitur nur hübsche schwarze Schnörkel. Noch aber hofften meine Eltern auf ein verborgenes musikalisches Talent in mir, so dass sich Mom, kaum hatte ich die Partitur in der Hand, neben mich setzte und mir dabei helfen wollte. Schon bald sang sie, und ich stimmte mit kläglichen Heultönen, die Finger schnippend, ein, bis wir kicherten und sie mich kitzelte. Dad, der mit einem Handtuch um die Hüften aus dem Bad kam, stimmte ebenfalls ein, und ein paar wunderschöne Minuten lang sangen sie gemeinsam, und Dad hob mich hoch, und sie tanzten, mich zwischen sich gepresst, durchs Schlafzimmer. Dann klingelte das Telefon, die Szene löste sich auf. Mom ging ran, Dad setzte mich aufs Bett und zog sich an.
Schließlich waren sie doch fertig. Meine Mom trug ein rotes ärmelloses Kleid mit Sandalen und hatte ihre Finger- und Zehennägel im dazu passenden Farbton lackiert. Dad, der in dunkelblauer Hose und weißem kurzärmeligem Hemd brillierte, lieferte einen ruhigen Hintergrund zu Moms extravaganter Erscheinung. Wir stiegen ins Auto. Wie immer hatte ich den ganzen Rücksitz für mich, also legte ich mich hin und beobachtete durchs Fenster, wie die hohen Gebäude am Lake Shore Drive vorbeirauschten.
»Komm, Henry«, sagte Mom. »Wir sind da.«
Ich setzte mich auf und sah das Museum. Meine bisherige Kindheit hatte ich damit verbracht, mit meinen
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