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Die Frau des Zeitreisenden

Die Frau des Zeitreisenden

Titel: Die Frau des Zeitreisenden Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Audrey Niffenegger
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Bild der Eingangstür in Erinnerung zu rufen, und setze mich dann auf der linken Seite in die Nähe der Garderobe. Ich höre das Blut in meinem Kopf strömen, die Klimaanlage summt, draußen auf dem Lake Shore Drive rauschen Autos vorbei. Langsam esse ich zehn Kekse, breche jeden vorsichtig auseinander, kratze mit den Schneidezähnen die Vanillefüllung heraus und knabbere an den Schokoladenkekshälften, damit sie länger halten. Ich habe keine Ahnung, wie spät es ist oder wie lange ich warten muss. Mittlerweile bin ich wieder weitgehend nüchtern und halbwegs wach. Die Zeit verstreicht, nichts geschieht. Schließlich: ein leises Plumpsen, ein Stöhnen. Stille. Ich warte, stehe geräuschlos auf, tapse in die Halle und bewege mich langsam durchs Licht, das schräg auf den Marmorboden fällt. In der Mitte des Eingangs bleibe ich stehen und rufe halblaut: »Henry.«
    Nichts. Ein braver Junge, misstrauisch und still. Zweiter Versuch. »Schon gut, Henry. Ich bin dein Führer, bin nur hier, um dir alles zu zeigen. Du bekommst eine Sondertour. Keine Angst, Henry.«
    Ich höre ein leises, ganz schwaches Geräusch. »Ich hab dir ein T-Shirt mitgebracht, Henry. Damit dir nicht kalt wird, wenn wir uns die Ausstellungsstücke ansehen.« Ich kann ihn jetzt erkennen, er steht am Rand der Dunkelheit. »Hier. Fang auf.« Ich werfe es ihm zu, das T-Shirt verschwindet, dann tritt er ins Licht. Das Shirt reicht ihm bis zu den Knien. Da bin ich mit fünf, dunkles Stoppelhaar, mondbleich mit braunen, fast slawischen Augen, drahtig, übermütig. Mit fünf bin ich glücklich, geborgen in Normalität und den Armen meiner Eltern. Alles hat sich verändert, fängt jetzt an.
    Langsam gehe ich auf ihn zu, neige mich ihm entgegen, sage im Flüsterton: »Hallo. Freut mich, dich zu sehen Henry. Danke, dass du heute Nacht gekommen bist.«
    »Wo bin ich? Wer bist du?« Seine dünne, hohe Stimme hallt leise vom kalten Stein wider.
    »Du bist im Field Museum. Man hat mich hierher geschickt, um dir ein paar Sachen zu zeigen, die du tagsüber nicht siehst. Ich heiße auch Henry. Ist das nicht komisch?«
    Er nickt.
    »Willst du ein paar Kekse? Wenn ich mir ein Museum ansehe, esse ich immer gern Kekse. Das spricht noch mehr Sinne an.« Ich halte ihm die Oreo-Packung hin. Henry zögert, unsicher, ob das gut ist, hungrig, aber unsicher, wie viel er nehmen darf, ohne unhöflich zu sein. »Nimm so viele wie du willst. Ich hab schon zehn Stück gegessen, du hast also einiges aufzuholen.« Er nimmt drei. »Gibt es etwas, das du zuerst sehen möchtest?« Er schüttelt den Kopf. »Weißt du was? Wir gehen in den zweiten Stock, da heben sie alles auf, was nicht ausgestellt ist. Gut?«
    »Gut.«
    Im Dunkeln steigen wir die Treppe hoch. Er geht nicht sehr schnell, also passe ich mich seinem langsamen Schritt an.
    »Wo ist Mom?«
    »Sie ist zu Hause und schläft. Wir machen eine Führung nur für dich, weil heute dein Geburtstag ist. Für solche Sachen haben Erwachsene außerdem wenig übrig.«
    »Du bist doch selber ein Erwachsener.«
    »Aber ein sehr ungewöhnlicher. Meine Aufgabe besteht darin, Abenteuer zu erleben. Und als ich erfuhr, dass du am liebsten gleich wieder ins Field Museum wolltest, hab ich die Gelegenheit ergriffen, um dich herumzuführen.«
    »Aber wie bin ich hierher gekommen?« Oben an der Treppe bleibt er stehen und sieht mich völlig verwirrt an.
    »Das ist eigentlich ein Geheimnis. Wenn ich es dir sage, musst du schwören, es keinem zu verraten.«
    »Warum?«
    »Weil man dir nicht glauben würde. Du kannst es Mom und Kimy erzählen, wenn du willst, aber sonst keinem. In Ordnung?«
    »In Ordnung...«
    Ich knie vor ihm nieder, vor meinem unschuldigen Ich, sehe ihm in die Augen. »Ehrenwort?«
    »Mhm...«
    »Gut. Also: Du bist durch die Zeit gereist. Du warst in deinem Zimmer, und mit einem Mal, puff! bist du hier, aber es ist noch etwas früher am Abend, wir haben also jede Menge Zeit und können uns alles ansehen, bevor du wieder nach Hause musst.« Er schweigt und macht ein zweifelndes Gesicht. »Ergibt das einen Sinn?«
    »Aber... warum?«
    »Nun, das weiß ich auch noch nicht. Wenn es so weit ist, lass ich’s dich wissen. Bis dahin sollten wir einfach weitergehen. Keks?«
    Er nimmt einen, und wir schlendern langsam den Gang entlang. Ich entschließe mich für ein kleines Experiment. »Versuchen wir’s hier.« An einer Tür mit der Nummer 306 lasse ich mein Lesezeichen am Schloss entlanggleiten, und es öffnet sich. Als ich das Licht

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