Die Frau des Zeitreisenden
Ben trägt Clares Strumpfband um den Arm wie eine Trauerbinde.
»Wer ist das?«, fragt er mich.
»Celia Attley. Ingrids Freundin.«
»Komisch.«
»Du sagst es.«
»Was ist eigentlich mit diesem Gomez?«
»Wie meinst du das?«
Ben starrt mich an und blickt dann zur Seite. »Vergiss es.«
(22.23 Uhr)
Clare: Geschafft. Wir haben uns den Weg aus dem Club geküsst und umarmt, sind in unserem mit Rasierschaum besprühten und Blechbüchsen behängten Auto losgefahren. Vor dem Dew Drop Inn, einem kleinen, heruntergekommenen Motel am Silver Lake, parke ich ein. Henry schläft. Ich steige aus, melde uns an, überrede den Mann an der Rezeption, mir zu helfen, Henry ins Zimmer zu bringen und ihn auf dem Bett abzuladen. Der Mann bringt das Gepäck herein, stiert auf mein Hochzeitskleid, dann auf Henrys leblosen Zustand, und grinst mich hämisch an. Ich gebe ihm ein Trinkgeld, worauf er geht. Dann streife ich Henry die Schuhe ab, lockere seine Krawatte. Anschließend ziehe ich mein Kleid aus und lege es über den Sessel.
Ich stehe im Badezimmer, zittere in meinem Slip und putze mir die Zähne. Im Spiegel kann ich Henry auf dem Bett liegen sehen. Er schnarcht. Ich spucke die Zahnpasta aus, spüle mit Wasser nach. Plötzlich überkommt es mich: Glück. Dazu die Erkenntnis: Wir sind verheiratet. Oder jedenfalls ich bin verheiratet.
Beim Licht ausschalten gebe ich Henry einen Gutenachtkuss. Er riecht nach Alkoholschweiß und Helens Parfüm. Gute Nacht, gute Nacht, lass dich nicht von den Flöhen beißen. Dann schlafe ich ein, traumlos und glücklich.
Montag, 25. Oktober 1993 (Henry ist 30, Clare 22)
Henry: Am Montag nach der Hochzeit sind Clare und ich im Rathaus von Chicago und lassen uns von einem Notar trauen. Gomez und Charisse sind unsere Zeugen. Anschließend gehen wir alle bei Charlie Trotter essen, ein Restaurant, dass sündhaft teuer ist und dessen Ausstattung an die erste Klasse im Flugzeug oder an eine minimalistische Skulptur erinnert. Zum Glück schmeckt auch das Essen, obwohl es wie Kunst aussieht, hervorragend. Charisse fotografiert jeden Gang, den man uns serviert.
»Wie fühlt man sich so, wenn man verheiratet ist?«, fragt Charisse.
»Unglaublich verheiratet«, erwidert Clare.
»Ihr könntet immer weitermachen«, sagt Gomez. »Probiert einfach die verschiedenen Zeremonien aus, die buddhistische, die nudistische...«
»Ich frage mich, ob ich eine Bigamistin bin.« Clare isst etwas Pistazienfarbenes, auf dem ein paar riesige Shrimps lauern, die aussehen wie kurzsichtige alte Männer beim Zeitung lesen.
»Ich glaube, man darf die gleiche Person so oft heiraten wie man will«, sagt Charisse.
»Bist du überhaupt die gleiche Person?«, fragt Gomez mich. Mein Gericht ist mit dünnen Scheiben rohen Thunfischs belegt, die einem auf der Zunge zergehen. Ich gönne mir einen Augenblick, um den Geschmack auszukosten, bevor ich antworte:
»Ja, mehr denn je.«
Gomez ist verstimmt und brummelt etwas von Zen-Koan, aber Clare lächelt mich an und hebt ihr Glas. Ich stoße mit ihr an: Ein zarter kristallener Ton erklingt und verliert sich im Gemurmel des Restaurants.
Jetzt sind wir also verheiratet.
II - EIN BLUTSTROPFEN IN EINER MILCHSCHALE
»Liebste, was ist?«
»Ach, wie können wir es nur ertragen?«
»Was ertragen?«
»Dieses. Für so kurze Zeit. Wie können wir diese Zeit verschlafen?«
»Wir können miteinander still sein und vorgeben - denn es ist erst der Anfang -, wir hätten soviel Zeit, wie wir wollen.«
»Und jeden Tag werden wir weniger haben. Und dann gar keine mehr.«
»Wäre es dir denn lieber gewesen, gar nichts gehabt zu haben?«
»Nein. Dies hier ist seit jeher meine Bestimmung gewesen. Seit Anbeginn meiner Lebenszeit. Wenn ich von hier fortgehen werde, wird es der Punkt der Mitte sein, zu dem zuvor alles hinstrebte und von dem aus von da an alles verlaufen wird. Aber jetzt, Liebster, sind wir hier, wir sind das Jetzt, und die anderen Zeiten verlaufen in andere Richtungen.«
A. S. Byatt, Besessen
EHELEBEN
März 1994 (Clare ist 22, Henry 30)
Clare: Jetzt sind wir verheiratet.
Anfangs wohnen wir in einer Vierzimmerwohnung in einem Zweifamilienhaus in Ravenswood. Die Wohnung ist sonnig, mit butterfarbenen Holzfußböden und einer Küche voll antiker Schränke und antiquierter Geräte. Wir kaufen Möbel, verbringen ganze Sonntagnachmittage bei Crate & Barrel, um Hochzeitsgeschenke umzutauschen, bestellen ein Sofa, das nicht durch die Türen passt und wieder
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