Die Frau des Zeitreisenden
Gestalt annimmt, blutend oder pfeifend, lächelnd oder zitternd. Jetzt habe ich Angst, wenn er fort ist.
Henry: Wenn man mit einer Frau zusammenlebt, lernt man jeden Tag etwas Neues. Bisher habe ich gelernt, dass lange Haare den Abfluss verstopfen, bevor man »Abflussreiniger« sagen kann; dass es sich nicht empfiehlt, einen Artikel aus der Zeitung auszuschneiden, bevor die eigene Frau ihn gelesen hat, auch wenn die fragliche Zeitung schon eine Woche alt ist; dass ich der Einzige in unserem Zweipersonenhaushalt bin, der drei Tage hintereinander ohne zu schmollen dasselbe zum Abendbrot essen kann; und dass Kopfhörer erfunden wurden, um Ehegatten vor den musikalischen Exzessen des anderen zu bewahren. (Wie kann Clare nur Cheap Trick hören? Was findet sie an den Eagles? Ich werde es nie erfahren, weil sie gleich in die Defensive geht, wenn ich sie danach frage. Wie ist es möglich, dass die Frau, die ich liebe, keinen Gefallen an der Musique du Garrot et de la Farraille findet?) Die schwierigste Lektion ist für mich Clares Bedürfais nach Ruhe. Manchmal komme ich nach Hause und sie wirkt irgendwie gereizt. Ich habe einen Gedankengang gestört, die verträumte Stille ihres Tages durchbrochen. Manchmal entdecke ich einen Ausdruck in ihrem Gesicht, der einer geschlossenen Tür gleicht. Sie hat sich in einen inneren Raum zurückgezogen, in dem sie sitzt und strickt oder so was. Ich habe festgestellt, dass Clare gern allein ist. Aber wenn ich von meinen Zeitreisen zurückkehre, ist sie immer froh, mich zu sehen.
Wenn die Frau, mit der man zusammenlebt, Künstlerin ist, birgt jeder Tag eine Überraschung. Clare hat das zweite Schlafzimmer in ein Wunderkabinett verwandelt, voll kleiner Skulpturen und Zeichnungen, die überall an die Wand gepinnt sind. Auf Regalen und Schubladen liegen Drahtspulen und Papierrollen. Die Skulpturen erinnern mich an Drachen oder Modellflugzeuge. Als ich Clare das eines Abends sage - nach der Arbeit, ich stehe noch in Anzug und Krawatte an der Tür zu ihrem Atelier und will gleich Essen kochen -wirft sie eine der Skulpturen nach mir; sie fliegt überraschend gut, und schon stehen wir an entgegengesetzten Enden des Flurs, bewerfen uns mit winzigen Skulpturen, testen ihre Aerodynamik. Am nächsten Tag komme ich nach Hause und Clare hat einen Schwarm von Papier- und Drahtvögeln erschaffen, die von der Decke des Wohnzimmers baumeln. Eine Woche später hängen unsere Schlafzimmerfenster voll abstrakter Gebilde in durchsichtigem Blau, die von der Sonne an die Wände geworfen werden, und den Vögeln, die Clare dort gemalt hat, einen Himmel geben. Wunderschön.
Am nächsten Abend stehe ich in der Tür zu Clares Atelier und beobachte, wie sie ein Dickicht von schwarzen Linien um einen kleinen roten Vogel fertig zeichnet. Als ich Clare da in ihrem kleinen Zimmer sehe, eingeschlossen von ihren vielen Sachen, wird mir klar, dass sie etwas sagen will, und ich weiß, was ich zu tun habe.
Clare: Ich höre Henrys Schlüssel in der Haustür und komme aus dem Atelier, als er in die Wohnung tritt. Zu meiner Überraschung trägt er einen Fernseher. Wir besitzen keinen Apparat, weil Henry nicht fernsehen kann, und ich nicht allein davor sitzen mag. Es ist ein altes Schwarzweißgerät, klein und staubig, mit zerbrochener Antenne.
»Hallo, Liebes, da bin ich wieder«, sagt Henry und stellt den Fernseher auf den Esstisch.
»Igitt, ist der schmutzig«, sage ich. »Hast du den auf der Straße gefunden?«
Henry sieht gekränkt aus. »Den hab ich bei Unique gekauft. Zehn Dollar.«
»Wieso?«
»Heute Abend läuft etwas, das wir uns ansehen sollten.«
»Aber...« Ich kann mir nicht vorstellen, welche Sendung Henry dazu veranlassen könnte, eine Zeitreise zu riskieren.
»Schon gut, ich werde nicht auf den Schirm starren. Aber du sollst es sehen.«
»Aha. Was denn?« Ich bin gar nicht mehr auf dem Laufenden, was Fernsehprogramme betrifft.
»Es ist eine Überraschung. Um acht geht’s los.«
Der Fernseher steht auf dem Fußboden im Esszimmer, während wir beim Abendbrot sitzen. Henry weigert sich, auf meine Fragen einzugehen, möchte aber unbedingt wissen, was ich mit einem großen Atelier anfangen würde.
»Wozu ist das wichtig? Ich hab meine Abstellkammer. Vielleicht fange ich mit Origami an.«
»Ach komm, im Ernst.«
»Ich weiß nicht.« Ich zwirble Linguini auf meine Gabel. »Ich würde jede Maquette hundert Mal größer machen. Ich würde auf drei Meter mal drei Meter großem Hadernpapier
Weitere Kostenlose Bücher