Die Frau des Zeitreisenden
zurückgeschickt werden muss. Unsere Wohnung ist ein Labor, in dem wir miteinander experimentieren, uns gegenseitig erforschen. Wir entdecken, dass Henry es hasst, wenn ich beim Frühstück Zeitung lese und dabei geistesabwesend mit dem Löffel an die Zähne klicke. Wir einigen uns darauf, dass ich Joni Mitchell hören darf und Henry The Shags, solange der andere nicht zu Hause ist. Wir kommen überein, dass Henry das Kochen übernehmen und ich für die Wäsche zuständig sein sollte. Keiner von uns will staubsaugen, also stellen wir dafür einen Reinigungsdienst ein.
Wir bekommen eine gewisse Routine. Henry arbeitet von Dienstag bis Samstag in der Newberry. Er steht um 7.30 Uhr auf und stellt die Kaffeemaschine an, wirft dann seine Joggingsachen über und läuft eine Runde. Wenn er zurückkommt, duscht er und zieht sich an. Ich wanke aus dem Bett und plaudere mit ihm, während er Frühstück macht. Nach dem Frühstück putzt er sich die Zähne und saust zur Tür hinaus, um die El zu erwischen. Ich gehe dann wieder ins Bett und döse noch ein Stündchen.
Wenn ich wieder aufstehe, ist es still in der Wohnung. Ich nehme ein Bad, kämme mir die Haare und ziehe meine Arbeitskleidung an. Dann gieße ich mir noch eine Tasse Kaffee ein, gehe ins hintere Schlafzimmer, das mir als Atelier dient, und schließe die Tür.
Am Anfang meines Ehelebens tue ich mich schwer in meinem winzigen Schlafzimmer-Atelier. Der Platz, den ich mein Eigen nennen kann, der nicht von Henry ausgefüllt wird, ist so klein, dass auch meine Ideen klein geworden sind. Ich fühle mich wie eine Raupe in einem Papierkokon. Überall um mich herum sind Skizzen für Skulpturen, kleine Zeichnungen, die wie Motten gegen die Fenster flattern und mit den Flügeln schlagen, um diesem winzigen Raum zu entfliehen. Ich mache Maquetten, winzige Skulpturen, die Proben für meine großen Skulpturen sind. Jeden Tag kommen die Ideen zögernder, als wüssten sie, dass ich sie verkümmern lasse und ihr Wachstum hemme. Nachts träume ich von Farbe, von Schöpfwannen mit Papierfasern, in die ich meine Arme tauche. Ich träume von Miniaturgärten, die ich nicht betreten kann, weil ich eine Riesin bin.
Das Faszinierende an der künstlerischen Kreativität (oder wahrscheinlich an jeder Art von Schaffensprozess) ist der Moment, wenn die nebelhafte, gegenstandslose Idee konkrete Gestalt annimmt, Substanz gewinnt, sich zu einem Ding in einer Welt der Dinge wandelt. Circe, Nimbue, Artemis, Athene - all diese alten Hexen müssen das Gefühl gekannt haben, wenn sie bloße Menschen in Fabelwesen verwandelten, den Zauberern ihre Geheimnisse stahlen oder ganze Armeen in Bewegung setzten: Ah, sieh nur, da ist es, das neue Ding: Nennt es Schwein, Krieg, Lorbeerbaum. Nennt es Kunst. Der Zauber, den ich bewirken kann, ist nun ein kleiner Zauber, ein aufgeschobener Zauber. Ich arbeite jeden Tag, aber nichts nimmt Gestalt an. Ich fühle mich wie Penelope, die immer wieder webt und auftrennt.
Und was ist mit Henry, meinem Odysseus? Henry ist ein Künstler anderer Art, ein verschwindender Künstler. Unser gemeinsames Leben in dieser zu kleinen Wohnung wird von Henrys kleinen Abwesenheiten durchbrochen. Manchmal verschwindet er unauffällig; ich gehe vielleicht gerade von der Küche in den Flur und finde einen Kleiderhaufen auf dem Fußboden. Oder ich stehe morgens auf und die Dusche läuft, aber niemand ist drunter. Manchmal ist es beängstigend. Eines Nachmittags arbeite ich in meinem Atelier, als ich jemand vor meiner Tür stöhnen höre; ich öffne sie und finde Henry auf Händen und Knien im Flur, nackt, mit einer heftig blutenden Kopfwunde. Er öffnet die Augen, sieht mich und verschwindet. Manchmal wache ich nachts auf, und Henry ist weg. Am nächsten Morgen erzählt er mir, wo er gewesen ist, so wie andere Ehemänner ihren Frauen vielleicht einen Traum erzählen: »Ich war im Dunkeln in der Selzer-Bibliothek, im Jahr 1989.« Oder: »Ich wurde von einem Schäferhund durch einen Garten gejagt und musste auf einen Baum klettern.« Oder: »Ich hab im Regen vor der Wohnung meiner Eltern gestanden und zugehört, wie meine Mutter sang.« Ich warte darauf, dass Henry mich auf seinen Ausflügen einmal als Kind sieht, doch das ist bislang noch nicht geschehen. In meiner Kindheit habe ich mich immer auf Henry gefreut. Jeder Besuch war ein Ereignis. Jetzt ist jede Abwesenheit ein Nichtereignis, eine Subtraktion, ein Abenteuer, von dem ich erfahren werde, wenn der Abenteurer zu meinen Füßen
Weitere Kostenlose Bücher