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Die Frau des Zeitreisenden

Die Frau des Zeitreisenden

Titel: Die Frau des Zeitreisenden Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Audrey Niffenegger
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Telefon kommt und sofort fragt: »Was ist los?«
    »Ich blute.«
    »Wo ist Henry?«
    »Ich weiß nicht.«
    »Was für eine Blutung?«
    »Wie eine Periode.« Die Schmerzen werden stärker, ich setze mich auf den Boden. »Kannst du mich ins Illinois Masonic fahren?«
    »Bin gleich da, Clare.« Sie hängt ein, und ich lege den Hörer behutsam auf die Gabel, so als könnte ich seine Gefühle verletzen, wenn ich ihn zu grob behandle. Vorsichtig komme ich auf die Füße, suche meine Handtasche. Ich will Henry eine Nachricht hinterlassen, weiß aber nicht so recht, wie ich es formulieren soll. Ich schreibe: »Bin im IL Masonic. (Krämpfe.) Charisse hat mich gefahren. 19.20 Uhr. C.« Ich lasse die Hintertür für Henry offen und lege den Zettel neben das Telefon. Ein paar Minuten später steht Charisse vor der Haustür. Als wir zum Auto gehen, wartet Gomez hinterm Steuer. Wir reden nicht viel. Ich sitze auf dem Beifahrersitz, sehe aus dem Fenster. Über die Western zur Belmont zur Sheffield zur Wellington. Alles ist ungewöhnlich scharf und klar, als müsste ich mich erinnern, als käme gleich ein Test. Gomez biegt in die Haltezone der Notaufnahme ein. Charisse und ich steigen aus. Ich drehe mich zu Gomez um, der kurz lächelt und davonröhrt, um das Auto zu parken. Wir gehen durch Türen, die sich auf Fußdruck automatisch öffnen, wie in einem Märchen, als würde man uns erwarten. Der Schmerz hat sich zurückgezogen wie eine Ebbe und nun brandet er wieder zur Küste, frisch und ungestüm. Ein paar Leute sitzen klein und elend in dem hell erleuchteten Raum, sie warten, dass sie an die Reihe kommen, umschließen ihren Schmerz mit gesenkten Köpfen und verschränkten Armen, und ich sinke zwischen ihnen nieder. Charisse geht zu dem Mann, der hinter dem Triage-Tisch sitzt. Ich kann nicht verstehen, was sie sagt, aber als ich sein fragendes »Fehlgeburt?« höre, wird mir klar, das ist mein Problem, so nennt man das, und das Wort macht sich in meinem Kopf breit, bis es noch den letzten Winkel ausfüllt, bis es jeden anderen Gedanken verdrängt. Ich fange zu weinen an.
    Nachdem sie alles in ihrer Macht Stehende getan haben, geschieht es trotzdem. Später finde ich heraus, dass Henry kurz vor dem Ende eintraf, aber sie wollten ihn nicht zu mir lassen. Ich habe geschlafen, und als ich aufwache, ist es spätnachts und Henry ist da. Bleich, hohläugig, er sagt kein Wort. »Oh«, flüstere ich, »wo warst du?«, und Henry beugt sich über mich, nimmt mich vorsichtig in den Arm. Ich spüre seine Bartstoppeln an meiner Wange und bin wund gerieben, nicht auf der Haut, sondern tief in mir drin öffnet sich eine Wunde, und Henrys Gesicht ist nass, aber mit wessen Tränen?
Donnerstag, 13. Juni und Freitag, 14. Juni 1996 (Henry ist 32)
     
    Henry: Ich komme erschöpft im Schlaflabor an, wie Dr. Kendrick es verlangt hat. Es ist meine fünfte Nacht hier, inzwischen kenne ich den Ablauf. In Pyjama-Hose sitze ich auf dem Bett in dem sonderbaren nachgeahmten Schlafzimmer, während mir Dr. Larsens medizinisch-technische Assistentin Karen ein Gel auf Kopf und Brust schmiert und Elektroden auf die Messpunkte platziert. Karen ist eine junge blonde Vietnamesin, die lange falsche Fingernägel trägt und: »Ups, tut mir Leid«, sagt, wenn sie mit einem davon über meine Wange ratscht. Die Lichter sind gedämpft, der Raum ist kühl. Es gibt keine Fenster, nur eine auf einer Seite durchsichtige Glasscheibe, die wie ein Spiegel aussieht und hinter der Dr. Larson sitzt oder wer immer heute Abend die Geräte bewacht. Karen beendet die Verkabelung, wünscht mir eine gute Nacht und verlässt das Zimmer. Vorsichtig lege ich mich im Bett zurecht, schließe die Augen und stelle mir vor, wie auf der anderen Glasseite spinnenbeinige Kurven auf langen Strömen von Millimeterpapier meine Augenbewegungen, Atmungen und Hirnwellen registrieren.
    Ich träume vom Laufen. Ich laufe durch Wälder, dichtes Gebüsch, Bäume, aber irgendwie laufe ich durch alles hindurch, durchquere es wie ein Geist. Ich platze auf eine Lichtung, dort war ein Feuer...
    Ich träume, dass ich mit Ingrid schlafe. Ich weiß, es ist Ingrid, obwohl ich ihr Gesicht nicht sehen kann, es ist Ingrids Körper, ihre langen glatten Beine. Wir schlafen im Haus ihrer Eltern miteinander, im Wohnzimmer auf der Couch, der Fernseher ist an, es läuft eine Naturdokumentation, in der eine Antilopenherde rennt, und dann folgt eine Parade. Clare sitzt auf einem winzigen Festwagen, sie sieht traurig aus, während

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