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Die Frau des Zeitreisenden

Die Frau des Zeitreisenden

Titel: Die Frau des Zeitreisenden Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Audrey Niffenegger
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Mäuse machen, die durch die Zeit reisen. Und dann will er sie heilen.«
    Wir beide fangen gleichzeitig zu lachen an, und dann tanzen wir, wirbeln ausgelassen durchs Zimmer, lachen und tanzen, bis wir wieder aufs Sofa fallen und keuchen. Ich sehe Henry an und wundere mich, dass er auf zellulärer Ebene so verschieden, so anders ist, dabei ist er doch nur ein Mann in einem weißen Hemd mit Button-down-Kragen und einer erbsengrünen Jacke, dessen Hand sich nach Haut und Knochen anfühlt, ein Mann, der lächelt wie ein ganz normaler Mensch. Ich wusste immer, dass er anders ist, spielt das eine Rolle? Was sind schon ein paar Buchstaben im Code? Aber irgendwie muss es wichtig sein und irgendwie müssen wir es ändern, und irgendwo auf der anderen Seite der Stadt sitzt Dr. Kendrick in seiner Praxis und überlegt, wie er Mäuse machen kann, die den Gesetzen der Zeit trotzen. Ich muss lachen, aber es geht um Leben und Tod, also höre ich zu lachen auf und halte mir die Hand über den Mund.

INTERMEZZO
Mittwoch, 12. August 1998 (Clare ist 27)
     
    Clare: Endlich ist Mama eingeschlafen. Sie schläft in ihrem eigenen Bett, in ihrem eigenen Zimmer. Letztendlich ist sie dem Krankenhaus entflohen und muss nun feststellen, dass sich ihr Zimmer, ihr Zufluchtsort in ein Krankenhauszimmer verwandelt hat. Aber inzwischen merkt sie es nicht mehr. Die ganze Nacht hat sie geredet, geweint, gelacht, geschrien, gerufen »Philip!« und »Mama!« und »Nein, nein, nein...«. Die ganze Nacht ließen die Zikaden und Baumfrösche meiner Kindheit ihren elektrischen Klangteppich pulsieren. Im Nachtlicht schimmerte Mamas Haut wie Bienenwachs, sie fuchtelte flehentlich mit ihren knochigen Händen und umklammerte das Glas Wasser, das ich ihr an die verkrusteten Lippen hielt. Nun wird es hell. Mamas Fenster blickt nach Osten. Dem Bett zugewandt sitze ich in dem weißen Sessel am Fenster, aber ich sehe nicht hin, sehe nicht zu Mama, so verschwindend klein in ihrem großen Bett, sehe nicht auf die Pillendosen, die Löffel, die Gläser, den Tropf, an dem der prall mit Flüssigkeit gefüllte Beutel hängt, sehe nicht auf die blinkende rote LED-Anzeige, die Bettpfanne, die kleine nierenförmige Schale für Erbrochenes, die Schachtel mit den Latexhandschuhen und den Mülleimer mit der warnenden Aufschrift BIOGEFAHR, voll mit blutigen Spritzen. Ich blicke aus dem Fenster in Richtung Osten. Ein paar Vögel singen. Ich höre, wie die Tauben in der Glyzinie wach werden. Die Welt ist grau. Langsam sickert Farbe in sie hinein, nicht rosafingrig, sondern wie ein sich langsam ausbreitender blutorangefarbener Fleck, der einen Moment lang über dem Horizont schwebt und dann den Garten überflutet, und dann kommt goldenes Licht, dann ein blauer Himmel, und dann leuchten die Farben alle an dem ihnen zugewiesenen Platz. Die Klettertrompete, die Rosen, der weiße Salbei und die Ringelblumen, alle glänzen im frischen Morgentau wie Glas. Die Äste der Weißbirken am Waldrand sehen aus wie vom Himmel herabhängende Silberfäden. Eine Krähe fliegt über das Gras. Ihr Schatten fliegt unter ihr und stößt mit ihr zusammen, als sie unterm Fenster landet und einmal krächzt. Das Licht findet zum Fenster und belebt meine Hände, meinen Körper, der schwer in Mamas weißem Sessel ruht. Die Sonne ist aufgegangen.
    Ich schließe die Augen. Die Klimaanlage surrt. Mir ist kalt. Ich stehe auf, gehe zum anderen Fenster und schalte sie ab. Jetzt ist es ruhig im Zimmer. Ich trete ans Bett. Mama liegt reglos da. Das mühsame Atmen, das mich noch im Traum verfolgte, hat aufgehört. Ihr Mund ist leicht geöffnet, die Augenbrauen hochgezogen, als wäre sie überrascht, obwohl die Augen geschlossen sind; sie könnte auch singen. Ich knie neben dem Bett nieder, schlage die Decke zurück und lege mein Ohr an ihr Herz. Ihre Haut ist noch warm. Nichts. Kein Herz schlägt, kein Blut pulsiert, kein Atem bläht die Segel ihrer Lungen. Stille.
    Ich nehme ihren übel riechenden, ausgemergelten Körper in den Arm, und einen ganz kurzen Augenblick lang ist sie vollkommen, ist sie wieder meine vollkommene, wunderschöne Mama, auch wenn ihre spitzen Knochen in meine Brust stoßen und ihr Kopf herunterhängt, auch wenn ihr vom Krebs zerfressener Bauch Fruchtbarkeit mimt, ersteht sie in meiner Erinnerung noch einmal strahlend, lachend, erlöst und: frei.
    Schritte im Flur. Die Tür öffnet sich und Ettas Stimme.
    »Clare? Oh...«
    Ich lege Mama wieder auf die Kissen, streiche ihr Nachthemd glatt, ihre

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