Die Frau des Zeitreisenden
Haare. »Sie ist tot.«
Henry: Lucille liebte den Garten. Wenn wir in Meadowlark zu Besuch kamen, ging Clare durch die Haustür und gleich weiter nach hinten, auf der Suche nach Lucille, die fast immer im Garten war, bei Wind und Wetter. Wenn es ihr gut ging, kniete sie vor einem Beet, jätete Unkraut, setzte Blumen um oder düngte die Rosen. War sie krank, brachten Etta und Philip sie eingewickelt in Decken herunter und setzten sie in ihren Korbstuhl, mal beim Springbrunnen, mal unterm Birnbaum, wo sie Peter beim Umgraben, Stutzen oder Pfropfen zusehen konnte. War Lucille bei Kräften, unterhielt sie uns mit Ereignissen aus dem Garten: Die Rotkopffinken hatten endlich das neue Futterhäuschen entdeckt, die Dahlien wuchsen hinten bei der Sonnenuhr viel besser als erwartet, die neue Rose blühte in einem schrecklichen Lavendelton, war aber so widerstandsfähig, dass sie davor zurückschreckte, sie loszuwerden. In einem Sommer führten Lucille und Alicia ein Experiment durch: Alicia übte täglich ein paar Stunden Cello im Garten, um herauszufmden, ob die Pflanzen auf Musik reagieren würden. Lucille schwor, dass ihre Tomatenernte noch nie so reich ausgefallen sei, und zeigte uns eine Zucchini vom Umfang meines Oberschenkels. Das Experiment galt demnach als Erfolg, wurde aber nicht wiederholt, weil es der letzte Sommer war, in dem Lucille gesund genug war, um zu gärtnern.
Lucilles Kräfte kamen und gingen mit den Jahreszeiten, wie bei einer Pflanze. Im Sommer, wenn wir alle auftauchten, riss sie sich zusammen, und das Haus hallte vom fröhlichen Geschrei und dem Getrampel von Mark und Sharons Kindern wider, die wie Welpen im Springbrunnen plantschten oder verschwitzt und ausgelassen auf dem Rasen tobten. Lucille war oft schmutzig, aber immer elegant. Sie stand auf und begrüßte uns, die weißen und kupferfarbenen Haare zu einem dicken Knoten aufgerollt, aus dem ihr dicke Strähnen ins Gesicht hingen; die weißen Gartenhandschuhe aus Ziegenleder und Werkzeuge von Smith & Hawkins wurden beiseite geworfen, um unsere Umarmungen entgegenzunehmen. Lucille und ich haben uns immer sehr steif geküsst, auf beide Wangen, wie zwei uralte französische Gräfinnen, die sich lange Zeit nicht gesehen haben. Zu mir war sie immer sehr liebenswürdig, aber ihre Tochter konnte sie mit einem einzigen Blick vernichten. Sie fehlt mir. Und Clare... nun, bei Clare ist »fehlen« das falsche Wort. Clare ist hilflos, sie fühlt sich verlassen. Clare geht in ein Zimmer und vergisst, was sie dort will. Clare sitzt da und starrt eine Stunde lang in ein Buch, ohne eine Seite umzublättern. Aber sie weint nicht. Clare lächelt, wenn ich einen Witz mache. Clare isst, was ich ihr vorsetze. Wenn ich mit ihr schlafen will, bemüht sie sich, mitzumachen ... und bald lasse ich sie in Ruhe, aus Angst vor diesem sanften, tränenlosen Gesicht, das meilenweit entfernt scheint. Lucille fehlt mir, aber verlassen fühle ich mich von Clare, die fortgegangen ist und mich mit dieser Fremden zurückgelassen hat, die nur so aussieht wie Clare.
Mittwoch, 26. November 1998 (Henry ist 35, Clare 27)
Clare: Mamas Zimmer ist weiß und kahl. Verschwunden sind die vielen medizinischen Geräte. Das Bett ist abgezogen bis auf die Matratze, die sich fleckig und hässlich in dem sauberen Raum abhebt. Ich stehe vor Mamas Schreibtisch. Ein schwerer weißer Resopaltisch, modern und fremd in einem sonst zarten, femininen Zimmer voll antiker französischer Möbel. Mamas Schreibtisch steht in einem kleinen Erker, umgeben von Fenstern, durch die sich das Morgenlicht auf seine leere Oberfläche ergießt. Der Schreibtisch ist abgeschlossen. Eine Stunde habe ich vergeblich nach dem Schlüssel gesucht. Ich stütze die Ellbogen auf die Rückenlehne von Mamas Drehstuhl und starre auf den Schreibtisch. Schließlich gehe ich nach unten. Wohn- und Esszimmer sind leer. Aus der Küche dringt Gelächter, also stoße ich die Tür auf. Henry und Nell stehen dicht zusammengedrängt über mehreren Schüsseln, einem Teiglappen und einer Kuchenrolle.
»Vorsicht, junger Mann, Vorsicht! Wenn Sie die so drücken, werden die wie Schuhsohlen. Eine leichte Hand brauchen Sie, Henry, sonst haben Sie später den reinsten Kaugummi.«
»Verzeihung Verzeihung Verzeihung. Ich will ganz locker sein, aber schimpfen Sie mich nicht so. Hey, Clare.« Henry dreht sich um und lächelt, er ist mit Mehl bestäubt.
»Was machst du denn da?«
»Croissants. Ich habe geschworen, die Kunst des
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