Die Frau des Zeitreisenden
Blätterteigfaltens zu erlernen oder bei dem Versuch zu sterben.«
»Ruhe in Frieden, mein Sohn.« Nell grinst.
»Was ist los?«, fragt Henry, während Nell gekonnt eine Teigkugel ausrollt und faltet, einschneidet und in Wachspapier wickelt.
»Ich muss mir Henry ein paar Minuten ausleihen, Nell.« Nell nickt und richtet ihr Nudelholz auf Henry. »In einer Viertelstunde Sind Sie wieder da, dann machen wir die Marinade.«
»Ja, Ma’m.«
Henry folgt mir nach oben. Wir stehen vor Mamas Schreibtisch.
»Ich will ihn öffnen und kann die Schlüssel nicht finden.«
»Ach.« Er wirft mir einen Blick zu, so schnell, dass ich ihn nicht deuten kann. »Tja, nichts leichter als das.« Henry geht aus dem Zimmer und kommt wenig später zurück. Er setzt sich auf den Fußboden vor Mamas Schreibtisch und biegt zwei große Büroklammern gerade. Dann beginnt er bei der linken unteren Schublade, stochert geschickt und vorsichtig mit einer Büroklammer herum, steckt dann die zweite hinterher. »Voilà«, sagt er und zieht die Schublade auf. Sie quillt über vor Papier. Henry knackt im Handumdrehen auch die anderen vier Schubladen. Bald stehen sie alle offen, geben ihren Inhalt preis: Notizbücher, lose Blätter, Gartenkataloge, Samentüten, Füller und Bleistiftstummel, ein Scheckheft, eine Zuckerstange, ein Maßband und viele weitere kleine Gegenstände, die jetzt im Tageslicht scheu und verloren wirken. Henry hat nichts in den Schubladen angerührt. Er sieht mich an, fast unwillkürlich werfe ich einen Blick zur Tür, und Henry versteht den Wink. Ich wende mich Mamas Schreibtisch zu.
Die Papiere sind nicht geordnet. Ich setze mich auf den Boden und häufe den Inhalt einer Schublade vor mir auf. Alles mit ihrer Handschrift glätte ich und lege es links neben mich. Einiges davon sind Listen und an sie selbst gerichtete Notizen: FragP nicht nach S. Oder: Etta erinnern: Freitag Abendessen B. Seiten über Seiten mit Kritzeleien, Spiralen und Schnörkeln, schwarzen Kreisen und Flecken wie Vogelfüßen. Auf einigen ist ein Satz oder eine Redewendung eingefügt. Um das Haar mit einem Messer zu teilen. Und: ...
konnte und konnte es einfach nicht tun. Und: Wenn ich still bin, wird es an mir vorübergehen. Auf einigen Seiten stehen Gedichte, die so dick markiert und durchgestrichen sind, dass nur wenig übrig bleibt, wie Fragmente von Sappho:
Wie altes Fleisch, locker und zart,
keine Luft XXXXXX sie sagt ja
sie sagte XXXXXX XXXXXX XXXXXX
Oder:
seine Hand XXXXXXXXXXXXXXX
XXXXX zu besitzen,
XXXXXXXXXXXXXXXXX
bis zum Äußersten XXXXXXXXXX
Einige Gedichte sind mit Schreibmaschine getippt:
Im Moment
ist alle Hoffnung schwach
und klein.
Musik und Schönheit
sind Salz in meiner Traurigkeit;
eine weiße Leere zerreißt mein Eis.
Wer hätte gedacht
dass der Engel des Sex
so traurig ist?
Oder gewusst, dass Begehren
diese weite Winternacht in eine
Flut von Dunkelheit
verwandeln kann.
23.10.79
Der Frühlingsgarten:
Ein Sommerschiff
schwimmt durch
mein Winterbild.
6.40.79
1979 war das Jahr, in dem Mama ihr Baby verlor und sich umbringen wollte. Mein Magen schmerzt, und vor meinen Augen verschwimmt alles. Heute weiß ich, was damals in ihr vorging. Ich nehme alle von ihr beschriebenen Blätter und lege sie beiseite, ohne noch etwas zu lesen. In einer anderen Schublade finde ich jüngere Gedichte. Und dann entdecke ich ein Gedicht, das an mich gerichtet ist:
Der Garten Unter Schnee für clare
nun liegt der Garten unter Schnee
ein weißes Blatt für die Schrift unserer Schritte,
clare, die niemals mir gehörte
sondern immer nur sich selbst
Schneewittchen
eine kristallene Decke
sie wartet
dies ist ihr Frühling
dies ist ihr Schlafen/Erwachen
sie wartet
alles wartet
auf einen Kuss
unfassbare Formen von Knollen Wurzeln
Nie hätte ich gedacht
mein Baby
ihr beinahe Gesicht
ein Garten, wartend
Henry: Gleich gibt es Abendessen, und da ich Nell im Weg stehe und sie sagt: »Wollen Sie nicht mal nachsehen, was Ihre Frau so macht?«, denke ich mir, ich sollte es vielleicht herausfinden.
Clare sitzt auf dem Boden vor dem Schreibtisch ihrer Mutter, umgeben von weißen und gelben Papieren. Die Schreibtischlampe wirft einen Lichtkegel um sie, nur ihr Gesicht ist im Schatten; ihre Haare eine leuchtende kupferrote Aura. Sie blickt zu mir auf, hält mir ein Blatt Papier hin und sagt: »Sieh mal, Henry, sie hat mir ein Gedicht geschrieben.« Als ich neben Clare sitze
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