Die Frau des Zeitreisenden
hässliches Riesenmonstrum bauen, aber fürs Erste steht das alte noch hell erleuchtet im Nordosten.
Gomez beginnt mit dem Countdown: »Zehn, neun, acht...«, und wir alle stimmen ein: »Sieben, sechs, fünf, vier, DREI! ZWEI! EINS! Frohes neues Jahrl « Sektkorken knallen, Feuerwerkskörper zünden und zerplatzen am Himmel, und Clare und ich sinken uns in die Arme. Die Zeit steht still, und ich hoffe auf schönere Dinge.
DREI
Samstag, 13. März 1999 (Henry ist 35, Clare 27)
Henry: Charisse und Gomez haben ihr drittes Kind bekommen, Rosa Evangeline Gomolinski. Wir lassen eine Woche verstreichen, bevor wir mit Geschenken und Lebensmitteln über sie herfallen.
Gomez öffnet die Tür. Maximilian, drei Jahre alt, klammert sich an sein Bein und versteckt, als wir »Hallo Max!« zu ihm sagen, das Gesicht hinter Gomez’ Knie. Joseph, der mit einem Jahr etwas extrovertierter ist, rennt »Ba ba ba« plappernd zu Clare und rülpst laut, als sie ihn hochhebt. Gomez verdreht die Augen, worauf Clare lacht, und Joe lacht, und auch ich muss über das totale Chaos lachen. Das Haus sieht aus, als wäre ein Gletscher mit einem Spielzeugladen im Inneren hindurchgefegt und hätte Haufen von Lego steinen und herrenlosen Teddybären hinterlassen.
»Schaut euch nicht um«, sagt Gomez. »Hier ist alles unwirklich. Wir testen gerade eins von Charisses virtuellen Realityspielen. Wir nennen es >Elternschaft<.«
»Gomez?« Charisses Stimme dringt aus dem Schlafzimmer. »Sind Clare und Henry da?«
Wir defilieren durch den Flur und ins Schlafzimmer. Unterwegs erhasche ich einen Blick in die Küche. Eine Frau mittleren Alters steht an der Spüle und wäscht ab.
Charisse liegt im Bett, ihr schlafendes Töchterchen in den Armen. Sie ist winzig, hat schwarze Haare und irgendwie aztekische Gesichtszüge. Max und Joe haben helle Haare. Charisse sieht schrecklich aus (in meinen Augen. Clare behauptet später, sie habe »wunderschön« ausgesehen). Sie hat schwer zugenommen, wirkt ausgelaugt und krank. Sie hatte einen Kaiserschnitt. Ich setze mich auf den Stuhl. Clare und Gomez lassen sich auf dem Bett nieder. Max klettert zu seiner Mutter und kuschelt sich unter ihren freien Arm. Er starrt mich an und steckt den Daumen in den Mund. Joe sitzt auf Gomez’ Schoß.
»Sie ist wunderschön«, sagt Clare. Charisse lächelt. »Und du siehst auch großartig aus.«
»Ich fühl mich beschissen«, entgegnet Charisse. »Aber jetzt bin ich durch. Wir haben unser Mädchen.« Sie streichelt das kleine Gesicht, und Rosa gähnt und hebt eine winzige Hand. Ihre Augen sind dunkle Schlitze.
»Rosa Evangeline«, flötet Clare dem Baby zu. »Das klingt so hübsch.«
»Gomez wollte sie Mittwoch nennen, aber ich war strikt dagegen«, sagt Charisse.
»Na ja, sie kam sowieso an einem Donnerstag zur Welt«, erklärt Gomez.
»Willst du mal?« Clare nickt, und Charisse gibt ihr vorsichtig die kleine Rosa in den Arm.
Clare mit einem Baby in den Armen zu sehen beschwört die traurige Realität unserer Fehlgeburten in mir herauf, und einen Augenblick lang fühle ich mich wie benommen. Ich hoffe nur, dass ich nicht gleich durch die Zeit reise. Doch das Gefühl lässt nach, und was bleibt, ist die Wirklichkeit unserer letzten Monate: Wir haben Kinder verloren. Wo sind sie, diese verlorenen Kinder, wandern oder schweben sie verwirrt umher?
»Henry, möchtest du mal Rosa halten?«, fragt mich Clare.
Ich werde panisch. »Nein«, erwidere ich, etwas zu bestimmt. »Mir geht’s nicht besonders gut«, füge ich erklärend hinzu. Dann stehe ich auf und gehe aus dem Schlafzimmer, durch die Küche und zur Hintertür hinaus in den Garten. Es regnet leicht. Ich atme tief durch.
Die hintere Tür schlägt zu. Gomez kommt heraus und stellt sich zu mir.
»Alles in Ordnung?«, fragt er.
»Glaub schon. Da drinnen kriegt man Platzangst.«
»Klar, ich weiß, was du meinst.«
Eine ganze Weile stehen wir da und schweigen. Ich versuche mich daran zu erinnern, wie mein Vater mich im Arm hielt, als ich klein war, aber mir fällt nur ein, wie ich mit ihm gespielt und gelacht habe, wie ich mit ihm gelaufen und auf seinen Schultern geritten bin. Mir ist bewusst, dass Gomez mich ansieht und dass mir Tränen die Wangen hinablaufen. Ich wische mir mit dem Ärmel übers Gesicht. Jemand muss das Schweigen jetzt brechen.
»Kümmere dich nicht um mich«, sage ich.
Gomez macht eine unbeholfene Geste. »Bin gleich wieder da«, sagt er und verschwindet ins Haus. Ich gehe davon aus, dass er
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