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Die Frau des Zeitreisenden

Die Frau des Zeitreisenden

Titel: Die Frau des Zeitreisenden Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Audrey Niffenegger
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und das Gedicht lese, verzeihe ich Lucille ein bisschen ihre kolossale Selbstsucht und ihr monströses Sterben, dann sehe ich zu Clare. »Wunderschön«, sage ich und sie nickt, einen Augenblick lang überzeugt, dass ihre Mutter sie wirklich geliebt hat. Ich muss daran denken, wie meine Mutter an einem Sommernachmittag nach dem Essen Lieder sang, unserem Spiegelbild im Schaufenster zulächelte, in einem blauen Kleid über den Boden ihrer Garderobe wirbelte. Sie hat mich geliebt. Niemals habe ich an ihrer Liebe gezweifelt. Lucille war flatterhaft wie der Wind. Das Gedicht, das Clare in den Händen hält, ist ein Beweis, unveränderlich, schwarz auf weiß, der Schnappschuss eines Gefühls: Ich betrachte die Papierflut auf dem Boden und bin erleichtert, dass etwas aus diesem Chaos an die Oberfläche gestiegen ist, ein Rettungsboot für Clare.
    »Sie hat mir ein Gedicht geschrieben«, sagt Clare noch einmal, voll Staunen. Tränen laufen ihr über die Wangen. Ich nehme sie in den Arm, und sie ist wieder bei mir, meine Frau, Clare, ist nach dem Schiffbruch gesund und wohlbehalten ans rettende Ufer gelangt und weint wie ein kleines Mädchen, dessen Mutter ihr vom Deck des sinkenden Schiffes aus zuwinkt.

SILVESTER, EINS
Freitag, 31. Dezember 1999,23.55 Uhr (Henry ist 36, Clare 28)
     
    Henry: Clare und ich stehen auf einem Dach in Wicker Park, zusammen mit vielen anderen zähen Leuten, die den so genannten Jahrtausendwechsel erwarten. Es ist eine klare Nacht und nicht allzu kalt. Ich kann meinen Atem sehen, meine Ohren und die Nase sind ein bisschen taub. Clare ist in ihren großen schwarzen Schal eingemummelt, und ihr Gesicht wirkt im Mond/Straßenlicht blendend weiß. Das Dach gehört einem Paar aus dem Dunstkreis von Clares Künstlerfreunden. Gomez und Charisse stehen nicht weit entfernt und tanzen ganz langsam in Parkas und Fausthandschuhen zu einer Musik, die nur sie hören. Alle um uns herum sind betrunken und reißen Witze über die Konserven, die sie gehortet haben, über die heldenhaften Maßnahmen, die sie ergriffen haben, um ihre Computer vor der Kernschmelze zu schützen. Ich lächle in mich hinein, wohl wissend, der ganze Jahrtausendunsinn wird spätestens vergessen sein, wenn die Stadtreinigung die Weihnachtsbäume von den Gehwegen abholt.
    Wir warten auf den Beginn des Feuerwerks. Clare und ich lehnen an der taillenhohen Brüstung und überblicken die City von Chicago. Wir sehen nach Osten in Richtung Lake Michigan. »Hallo, allesamt«, sagt Clare und winkt mit ihrem Fäustling zum See, nach South Haven, Michigan. »Schon komisch«, sagt sie. »Dort ist das neue Jahr schon angebrochen. Ich bin sicher, sie liegen alle im Bett.«
    Wir befinden uns sechs Stockwerke hoch, und mich überrascht, wie viel ich von hier aus sehen kann. Unser Haus in Lincoln Square liegt irgendwo nordwestlich, in unserem Viertel ist es ruhig und dunkel. Die Innenstadt im Südosten funkelt und glitzert. Einige große Gebäude sind noch weihnachtlich geschmückt und zeigen grüne und rote Lichter in den Fenstern. Der Sears Tower und das John Hancock Center starren sich über die Köpfe der kleineren Wolkenkratzer hinweg an wie zwei Riesenroboter. Ich kann fast das Gebäude sehen, in dem ich gewohnt habe, als ich Clare kennen lernte, in der North Dearborn, aber es wird von einem höheren und hässlicheren Haus verdeckt, das sie vor einigen Jahren daneben gebaut haben. In Chicago gibt es so viel herausragende Architektur, dass man sich hin und wieder verpflichtet fühlt, einiges davon abzureißen und stattdessen grässliche Gebäude zu errichten, was uns lediglich darin bestärkt, die schönen Bauten umso mehr zu schätzen. Es herrscht nicht viel Verkehr; alle wollen um Mitternacht irgendwo sein, nur nicht auf der Straße. Hier und da explodiert ein Knallkörper, dazwischen vereinzelte Schüsse von Schwachköpfen, die offenbar vergessen, dass Schusswaffen mehr anrichten können als Krach. »Mir ist kalt«, sagt Clare und sieht auf ihre Uhr. »Noch zwei Minuten.« Ausbrechendes Jubelgeschrei in der Nachbarschaft zeigt, dass bei einigen die Uhren vorgehen.
    Ich denke an Chicago im nächsten Jahrhundert. Noch mehr Menschen, viel mehr. Ein Wahnsinnsverkehr, aber weniger Schlaglöcher. Es wird ein scheußliches Gebäude im Grant Park geben, das aussieht wie eine explodierende Cola-Dose; die West Side wird sich langsam aus der Armut erheben, die South Side wird weiter verfallen. Schließlich werden sie das Wrigley-Field-Stadion abreißen und ein

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