Die Frau des Zeitreisenden
Richard wissen.
Henry hustet. »Eigentlich hatten wir gehofft, wenn du nichts Besseres vorhast...«
Jetzt kapiert Richard. Es ist schön mit anzusehen, wie er begreift, wie ihm bewusst wird, dass jemand ihn braucht, dass nur er seiner einzigen Enkelin den Unterricht erteilen kann, den sie benötigen wird.
»Wäre mir ein Vergnügen«, sagt er, und Albas Zukunft entrollt sich vor ihr wie ein roter Teppich so weit das Auge reicht.
Dienstag, 11. September 2001 (Clare ist 30, Henry 38)
Clare: Um 6.43 Uhr wache ich auf, und Henry ist nicht da. Auch Alba liegt nicht in ihrem Bettchen. Meine Brust tut weh. Meine Möse tut weh. Mir tut alles weh. Vorsichtig steige ich aus dem Bett, schleiche auf die Toilette. Dann gehe ich langsam durch Flur und Esszimmer. Henry sitzt im Wohnzimmer auf dem Sofa, hält Alba in den Armen, er sieht nicht in den kleinen Schwarzweißfernseher, dessen Ton leise gestellt ist. Alba schläft. Ich setze mich zu Henry. Er legt den Arm um mich.
»Warum bist du schon auf?«, frage ich ihn. »Sagtest du nicht, es passiert erst in ein paar Stunden?« Ein Wettermann lächelt auf dem Fernseher und zeigt auf ein Satellitenfoto des Mittleren Westens.
»Ich konnte nicht schlafen«, sagt Henry. »Ich wollte ein Weilchen der Welt lauschen, solange sie noch normal ist.«
»Oh.« Ich lehne meinen Kopf an seine Schulter und schließe die Augen. Als ich sie wieder öffne, geht der Werbespot eines Mobiltelefonunternehmens zu Ende und einer für Wasser beginnt. Henry reicht mir Alba und steht auf. Wenig später höre ich, wie er Frühstück macht. Alba wacht auf, und ich öffne mein Nachthemd, um sie zu füttern. Meine Brustwarzen schmerzen. Ich behalte den Fernseher im Auge. Ein blonder Moderator erzählt mir etwas und lächelt. Er und eine Moderatorin, eine Asiatin, lachen und blicken mich freundlich an. Bürgermeister Daley beantwortet im Rathaus Fragen. Ich döse. Alba saugt an mir. Henry bringt ein Tablett mit Eiern, Toast und Orangensaft herein. Ich möchte Kaffee. Henry hat seinen taktvollerweise in der Küche getrunken, ich rieche ihn aber in seinem Atem. Er setzt das Tablett auf dem Couchtisch ab und stellt mir meinen Teller auf den Schoß. Ich esse meine Eier, während Alba trinkt. Henry wischt Eigelb mit seinem Toast auf. Im Fernseher schlittern ein paar Kinder durchs Gras, um die Wirkungskraft eines Waschmittels zu beweisen. Dann sind wir mit dem Frühstück fertig, und auch Alba ist satt. Ich lasse sie ihr Bäuerchen machen, während Henry das Geschirr in die Küche zurückbringt. Als er wiederkommt, reiche ich ihm Alba und gehe ins Bad, um zu duschen. Das Wasser ist so heiß, dass ich es kaum aushalte, aber auf meinem wunden Körper fühlt es sich himmlisch an. Ich atme die dampfende Luft ein, trockne behutsam meine Haut ab, reibe mir Salbe auf Lippen, Brust und Bauch. Der Spiegel ist ganz beschlagen, ich muss mich also nicht sehen. Ich kämme mir die Haare, dann ziehe ich mir Turnhose und Pullover an. Ich fühle mich verunstaltet, klein und hässlich. Im Wohnzimmer sitzt Henry mit geschlossenen Augen, und Alba lutscht Daumen. Als ich mich setze, öffnet sie die Augen und macht ein miauendes Geräusch. Ihr Daumen rutscht aus dem Mund, sie sieht verwirrt aus. Ein Jeep fährt durch eine Wüstenlandschaft. Henry hat den Ton abgestellt. Er massiert sich mit den Fingern die Augen. Ich schlafe wieder ein.
Henry sagt: »Wach auf, Clare.« Ich öffne die Augen. Das Fernsehbild schwenkt herum. Eine Großstadtstraße. Ein Himmel. Ein weißer Wolkenkratzer in Flammen. Ein Flugzeug fliegt langsam, wie ein Spielzeug, in den Zweiten weißen Tower. Stumme Flammen schießen empor. Henry dreht den Ton an. »O Gott«, sagt die Stimme im Fernseher. »O Gott.«
Dienstag, 11. Juni 2002 (Clare ist 31)
Clare: Ich mache eine Zeichnung von Alba. Sie ist jetzt neun Monate und fünf Tage alt. Im Augenblick schläft sie auf dem Rücken, auf einer kleinen hellblauen Flanelldecke, die auf dem ockergelben und magentaroten chinesischen Teppich im Wohnzimmer ausgebreitet liegt. Eben habe ich sie gestillt. Meine Brüste sind leicht, beinahe leer. Alba schläft so tief, dass ich, ohne mir Sorgen machen zu müssen, zur hinteren Tür hinaus und über den Hof in mein Atelier gehen kann.
Einen Moment lang stehe ich in der Tür und atme die leicht modrige, abgestandene Atelierluft ein. Dann stöbere ich meinen flachen Aktenschrank durch, hole ein persimonbraunes Papier heraus, das an eine Kuhhaut erinnert, schnappe mir ein
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