Die Frau des Zeitreisenden
paar Pastellkreiden, andere Werkzeuge und ein Reißbrett und gehe (mit einem nur leichten Gefühl des Bedauerns) zur Tür hinaus und zurück ins Haus.
Im Haus ist es sehr ruhig. Henry ist bei der Arbeit (hoffe ich), und im Keller kann ich die Waschmaschine unermüdlich rotieren hören. Die Klimaanlage pfeift. Von der Lincoln Avenue ertönt schwaches Verkehrsbrummen. Ich setze mich zu Alba auf den Teppich. Ein Trapez aus Sonnenlicht ist unmittelbar neben ihren kleinen rundlichen Füßen. In einer halben Stunde wird es sie bedecken.
Ich klemme mein Papier ans Reißbrett und lege die Pastellkreiden neben mir zurecht. Bleistift in der Hand, betrachte ich meine Tochter.
Alba schläft tief. Ihr Brustkasten hebt und senkt sich langsam, bei jedem Ausatmen höre ich ein leises Röcheln. Ob sie womöglich eine Erkältung bekommt? Aber hier, an diesem Junispätnachmittag, ist es warm, und Alba trägt nur eine Windel, sonst nichts. Sie ist leicht gerötet. Ihre linke Hand spannt und entspannt sich rhythmisch. Vielleicht träumt sie von Musik.
Ich fange an, Albas mir zugewandten Kopf grob zu skizzieren. Dabei muss ich nicht nachdenken. Meine Hand bewegt sich über das Papier wie die Nadel eines Seismographen, sie hält Albas Form fest, wie meine Augen sie aufnehmen. Ich sehe, wie ihr Hals in den Babyspeckfalten unterm Kinn verschwindet, wie die zarten Vertiefungen oberhalb der Knie sich leicht verändern, wenn sie tritt und dann wieder ruhig liegt. Mein Bleistift beschreibt die Wölbung von Albas rundem Bauch, der oben in der Windel verschwindet, eine abrupte und kantige Linie, die ihre Rundlichkeit durchschneidet. Ich prüfe das Blatt, lege den Winkel von Albas Beinen fest, überarbeite die Falte, wo der rechte Arm am Körper anliegt.
Ich nehme Pastellkreide. Als Erstes skizziere ich die Höhungen in Weiß - die winzige Nase hinunter, an ihrer linken Seite entlang, über die Knöchel, die Windel, die Linie ihres linken Fußes. Dann setze ich lose Schatten in Dunkelgrün und Ultramarin. Ein dunkler Schatten sitzt an Albas rechter Seite, dort, wo ihr Körper die Decke berührt. Er sieht aus wie eine Wasserlache, ich lege ihn kräftig an. Nun wird die Alba in der Zeichnung plötzlich dreidimensional, sie hebt sich von der Seite ab.
Jetzt verwende ich zwei rosa Kreiden, eine helle im Ton einer Muschelschale von innen, und eine dunkle, die mich an rohen Thunfisch erinnert. Mit schnellen Strichen zeichne ich Albas Haut. Es ist, als ob ihre Haut im Papier verborgen war und ich würde nun eine unsichtbare Schicht entfernen, die sie überdeckt hat. Auf diese pastellfarbene Haut gehe ich mit kühlem Violett und lege Albas Ohren, Nase und Mund an (der zu einem winzigen O geöffnet ist). Ihre schwarzen dichten Haare werden auf dem Papier eine Mischung aus Dunkelblau, Schwarz und Rot. Dann kommen ihre Augenbrauen, die mich sehr an pelzige Raupen erinnern, die auf Albas Gesicht ein Heim gefunden haben.
Die Sonne scheint jetzt auf Alba. Sie rührt sich, hebt ihre kleine Hand über die Augen und seufzt. Auf den unteren Papierrand schreibe ich ihren Namen, meinen Namen und das Datum.
Die Zeichnung ist fertig. Sie wird als Dokument dienen - ich habe dich geliebt, ich habe dich geschaffen, und ich habe diese Zeichnung für dich geschaffen - wenn es mich längst nicht mehr gibt, wenn es Henry nicht mehr gibt und auch Alba nicht mehr gibt. Diese Zeichnung wird sagen, wir haben dich geschaffen, das bist du, hier und jetzt.
Alba öffnet die Augen und lächelt.
GEHEIMNIS
Sonntag, 12. Oktober 2003 (Clare ist 32, Henry 40)
Clare : Hier ist ein Geheimnis: Manchmal bin ich froh, wenn Henry fort ist. Manchmal genieße ich das Alleinsein. Manchmal streife ich spätabends durch das Haus und schaudere vor Freude, nicht reden, nicht berühren zu müssen, sondern einfach nur herumzulaufen oder dazusitzen oder ein Bad zu nehmen. Manchmal liege ich auf dem Wohnzimmerboden und höre Fleetwood Mac, die Bangles, die B-52’s, die Eagles, alles Gruppen, die Henry nicht ausstehen kann. Manchmal mache ich lange Spaziergänge mit Alba, ohne eine Nachricht zu hinterlassen, wo ich bin. Manchmal verabrede ich mich mit Celia auf einen Kaffee, und wir reden über Henry und Ingrid und wen Celia während der Woche noch trifft. Manchmal bin ich mit Charisse und Gomez zusammen, und wir reden nicht über Henry, haben aber dennoch unseren Spaß. Einmal war ich in Michigan, und bei meiner Rückkehr war Henry noch immer verschwunden, und ich habe ihm nie erzählt, dass ich
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