Die Frau des Zeitreisenden
Schönheit des Opernhauses in sich auf, die aufwändige goldgrüne Leinwand vor der Bühne, die gekräuselten Gipskaskaden, die alle Bögen und Kuppeln säumen, das aufgeregte Gemurmel der Besucher. Die Lichter gehen aus, Charisse lächelt mich an. Dann hebt sich die Leinwand, wir sind auf einem Schiff und Isolde singt. Ich lehne mich im Stuhl zurück und verliere mich im Strom ihrer Stimme.
Vier Stunden, einen Liebestrank und eine stehende Ovation später wende ich mich zu Charisse. »Na, wie fandest du’s?«
Sie lächelt. »Irgendwie albern, oder? Aber durch den Gesang war es dann doch nicht albern.«
Ich halte ihr den Mantel, und sie tastet nach dem Armloch, findet es und streift den Mantel über. »Albern? Kann sein. Aber ich will mir gern vorstellen, dass Jane Egland jung und schön ist und keine zwei Zentner schwere Kuh, weil sie die Stimme der Euterpe hat.«
»Euterpe?«
»Die Muse der Musik.« Wir gesellen uns in den Strom der dem Ausgang zustrebenden, gesättigten Zuhörer. Unten treiben wir hinaus in die Kälte. Ich führe uns ein Stückchen den Wacker Drive entlang und nach ein paar Minuten gelingt es mir, ein Taxi zu ergattern. Ich will dem Fahrer Charisses Adresse nennen, als sie sagt: »Henry, lass uns noch einen Kaffee trinken. Ich möchte noch nicht zurück.« Ich sage dem Fahrer, er soll uns zu Don’s Coffee Club bringen, der in der Jarvin Avenue am nördlichen Stadtrand liegt. Charisse plaudert über den Gesang, der vollendet war; über das Bühnenbild, das, wie wir beide finden, uninspiriert war; über die moralische Schwierigkeit, Wagner zu genießen, wenn man weiß, dass er ein antisemitisches Arschloch war, dessen größter Fan Hitler hieß. Als wir zu Don kommen, ist die Hölle los; Don hält in einem orangen Hawaiihemd Hof, und ich winke ihm zu. Wir finden einen kleinen Tisch hinten. Charisse bestellt Kirschkuchen mit Vanilleeis und Kaffee, ich mein gewohntes Sandwich mit Erdnussbutter und Gelee und Kaffee. Perry Como schnulzt aus der Stereoanlage, und ein Hauch von Zigarettendunst schwebt über Tischen und Flohmarktgemälden. Charisse stützt ihren Kopf auf die Hand und seufzt.
»Hier ist es so toll. Manchmal vergesse ich ganz, wie es war, ein Erwachsener zu sein.«
»Ihr beide geht wohl nicht oft aus, oder?«
Charisse zermatscht ihr Eis mit der Gabel und lacht. »Joe macht das immer. Er sagt, matschig schmeckt es besser. Du liebe Güte, ich nehme schon ihre schlechten Gewohnheiten an statt ihnen meine guten beizubringen.« Sie isst ein Stück Kuchen. »Um deine Frage zu beantworten, wir gehen durchaus weg, aber fast immer nur zu politischen Veranstaltungen. Gomez denkt daran, als Stadtrat zu kandidieren.«
Ich verschlucke mich an meinem Kaffee und muss husten. Als ich wieder reden kann, sage ich: »Das soll wohl ein Witz sein. Wechselt er damit nicht die Seite? Gomez hat die Stadtverwaltung immer mies gemacht.«
Charisse bedenkt mich mit einem ironischen Blick. »Er hat beschlossen, das System von innen zu verändern. Die schrecklichen Fälle von Kindesmissbrauch haben ihn ausgebrannt. Er denkt wohl, mit ein bisschen eigener Schlagkraft könnte er womöglich doch etwas verbessern.«
»Vielleicht hat er sogar Recht.«
Charisse schüttelt den Kopf. »Mir hat es besser gefallen, als wir junge anarchistische Revolutionäre waren. Ich würde lieber Sachen in die Luft sprengen, als anderen in den Arsch zu kriechen.«
Ich muss lächeln. »Mir war nie klar, dass du die radikalere von euch beiden bist.«
»Oh, doch. Ich bin eben nicht so geduldig wie Gomez. Ich will Action.«
»Gomez ist geduldig?«
»Und wie. Ich meine, sieh dir doch nur die Sache mit Clare...« Charisse bricht unvermittelt ab, schaut mich an.
»Welche Sache mit Clare?« Noch während ich das frage, dämmert mir, dass wir deswegen hier sind, dass Charisse nur darüber mit mir reden wollte. Ich frage mich, was sie weiß und ich nicht. Ich frage mich auch, ob ich überhaupt wissen will, was Charisse weiß. Am liebsten würde ich, glaube ich, nichts davon erfahren.
Charisse blickt zur Seite und dann wieder zu mir. Sie starrt auf ihren Kaffee, legt die Hände um den Becher. »Na ja, ich dachte, du wüsstest es, aber, nun... Gomez ist in Clare verliebt.«
»Aha.« Ich werde ihr dabei nicht helfen.
Charisse fährt mit dem Finger die Maserung der Tischfurnierung entlang. »Also... Clare hat ihm gesagt, er soll verschwinden, und er glaubt, wenn er nur lang genug am Ball bleibt, wird irgendwas passieren und er kann bei
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