Die Frau des Zeitreisenden
sieht mich an.
»Du hast im Schlaf mit jemandem gesprochen, der Henry heißt.«
Mist. Mist. »Was habe ich gesagt?«
»Meistens immer nur >Henry<, so als wolltest du jemanden zu dir rufen. Und >Tut mir Leid<. Und einmal hast du gesagt: >Du warst ja nicht da<, so als wärst du richtig wütend. Wer ist Henry?«
»Henry ist mein Liebster.«
»Clare, du hast keinen Liebsten. Charisse und ich sehen dich seit einem halben Jahr fast jeden Tag, und du bist nie verabredet und nie ruft dich jemand an.«
»Henry ist mein Liebster. Er ist schon seit längerem fort und kommt im Herbst 1991 zurück.«
»Wo ist er?« Irgendwo in der Nähe.
»Ich weiß nicht.« Gomez glaubt, ich denke mir das alles nur aus. Obwohl es sinnlos ist, will ich, dass er mir glaubt. Ich greife nach meiner Tasche, öffne mein Portemonnaie und zeige Gomez das Foto von Henry. Er begutachtet es eingehend.
»Den hab ich schon gesehen. Oder, nein, jemanden, der ihm sehr ähnlich sieht. Der hier ist zu alt, er kann nicht der sein, den ich meine. Aber er hieß auch Henry.«
Mein Herz schlägt wie verrückt. Möglichst beiläufig frage ich: »Wo hast du ihn gesehen?«
»In Clubs. Meistens im Exit oder in der Smart Bar. Aber ich kann nicht fassen, dass du mit ihm befreundet bist. Er ist nämlich verrückt. Das Chaos ist sein ständiger Begleiter. Er ist Alkoholiker, und gerade hat er ... ich weiß nicht, er geht ziemlich grob mit Frauen um. Hört man jedenfalls.«
»Gewalttätig?« Ich kann mir nicht vorstellen, dass Henry eine Frau schlägt.
»Nein. Weiß ich nicht.«
»Wie heißt er mit Nachnamen?«
»Ich weiß nicht. Hör zu, Kätzchen, der Kerl würde dich vernaschen und ausspucken... garantiert das Letzte, was du brauchst.«
Ich lächle. Henry ist genau das, was ich brauche, aber mir ist klar, wie sinnlos es ist, die Clubszene nach ihm abzuklappern. »Was brauche ich denn?«
»Mich. Auch wenn du das offenbar anders siehst.«
»Du hast Charisse. Was willst du mit mir?«
»Ich will dich einfach. Keine Ahnung warum.«
»Bist du Mormone oder so?«
Gomez sagt sehr ernst: »Clare, ich... hör mal, Clare...«
»Sag’s nicht.«
»Wirklich, ich...«
»Nein. Ich will es nicht wissen.« Ich stehe auf, drücke die Zigarette aus und fange an, mich anzuziehen. Gomez sitzt reglos da und beobachtet mich. Ich komme mir schal, schmutzig und scheinheilig vor, wie ich mir vor Gomez das Partykleid von gestern Abend anziehe, aber ich versuche, es mir nicht anmerken zu lassen. Ich kann den langen Reißverschluss im Rücken nicht allein zumachen, und Gomez hilft mir dabei mit ernster Miene.
»Clare, sei nicht böse.«
»Ich bin nicht böse auf dich. Ich bin böse auf mich.«
»An diesem Kerl muss ja wirklich was Besonderes sein, wenn er ein Mädchen wie dich im Stich lässt und erwartet, dass du zwei Jahre später noch da bist.«
Ich lächle Gomez an. »Er ist unglaublich .« Mir ist klar, dass ich seine Gefühle verletzt habe. »Gomez, es tut mir Leid. Wenn ich frei wäre, und du frei wärst...« Gomez schüttelt den Kopf, und ehe ich mich versehe, küsst er mich. Ich erwidere den Kuss, und einen kurzen Moment lang frage ich mich... »Ich muss jetzt los, Gomez.«
Er nickt.
Und ich gehe.
Freitag, 27. April 1990 (Henry ist 26)
Henry: Ingrid und ich sind im Riviera Theater und tanzen uns zu den wohlklingenden Tönen von Iggy Pop unser winziges Hirn aus der Birne. Am glücklichsten sind Ingrid und ich immer, wenn wir tanzen, ficken oder sonst etwas tun, das körperliche Bewegung und kein Reden erfordert. Im Moment sind wir im Himmel. Wir stehen ganz vorn an der Bühne und Mr Pop peitscht uns in in eine kompakte Masse aus manischer Energie. Ich habe Ing mal gesagt, dass sie wie eine Deutsche tanzt, was ihr gar nicht gefiel, aber es stimmt: Sie tanzt ernst, als hinge unser Leben an einem seidenen Faden, als könne man mit Präzisionstanzen die hungernden Kinder in Indien retten. Großartig. The Iggster schnulzt »I’m so pent up, like this I can’t stay...« und ich weiß genau, was er meint. In Augenblicken wie diesem sehe ich einen Sinn in Ingrid und mir. Wir schlagen uns wie wild durch Lustfor Life, China Doll, Funtime. Wir haben beide genug Speed genommen, um eine Botschaft zum Pluto zu schicken, und ich verspüre das unglaublich schrille Gefühl und die tiefe Überzeugung, dass ich es packen könnte, den Rest meines Lebens vollkommen zufrieden hier zu sein. Ingrid schwitzt. Ihr weißes T-Shirt klebt ihr auf eine interessante und ästhetisch
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