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Die Frau des Zeitreisenden

Die Frau des Zeitreisenden

Titel: Die Frau des Zeitreisenden Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Audrey Niffenegger
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entkommen ist. Irgendwo dort draußen auf einer Wiese schlafen Henry und ich miteinander, und Gomez sieht mich müde an und greift mit seinen riesengroßen Händen nach mir, und alles, alles geschieht jetzt, aber wie immer ist es zu spät, um etwas daran zu ändern. Auf dem Sofa im Atelier packen Henry und ich uns aus wie zwei nagelneue, noch ungeöffnete Pralinenschachteln, und nein, es ist nicht zu spät, jedenfalls noch nicht.
Samstag, 14. April 1990 (Clare ist 18)
(6.43 Uhr)
     
    Clare: Ich öffne die Augen und weiß nicht, wo ich bin. Zigarettenrauch. Der Schatten einer Jalousie auf einer rissigen gelben Wand. Ich drehe den Kopf; neben mir liegt Gomez in seinem Bett und schläft. Plötzlich erinnere ich mich und gerate in Panik.
    Henry. Henry wird mich umbringen. Charisse wird mich hassen.
    Ich setze mich auf. Gomez’ Schlafzimmer ist ein Schlachtfeld aus überquellenden Aschenbechern, Klamotten, juristischen Lehrbüchern, Zeitungen, schmutzigem Geschirr. Meine Kleider liegen in einem kleinen, anklagenden Haufen neben mir auf dem Fußboden.
    Gomez sieht schön aus im Schlaf. Sein Gesicht ist heiter, nicht wie das eines Mannes, der gerade seine Freundin mit deren bester Freundin betrogen hat. Seine blonden Haare sind verwuschelt und nicht in ihrem gewohnt ordentlichen Zustand. Er sieht aus wie ein zu groß geratener Junge, erschöpft von zu vielen jungenhaften Spielen.
    Mein Kopf hämmert. Meine Eingeweide fühlen sich zerschlagen an. Wacklig stehe ich auf und gehe durch den Flur ins Bad, einem muffigen, schimmelverseuchten Raum voll Rasier-Utensilien und feuchten Handtüchern. Einmal im Badezimmer, weiß ich nicht mehr genau, was ich eigentlich wollte. Ich gehe auf die Toilette, wasche mir das Gesicht mit einem harten Seifenstück und betrachte mich im Spiegel, ob ich mich verändert habe, ob Henry durch meinen bloßen Anblick Bescheid wissen wird... Ich sehe irgendwie blass aus, aber sonst genauso wie immer um sieben Uhr morgens.
    Das Haus ist still. Irgendwo in der Nähe tickt eine Uhr. Gomez teilt sich das Haus mit zwei Mitbewohnern, Freunden, die auch an der juristischen Fakultät der Northwestern studieren. Ich will keinem der beiden über den Weg laufen, gehe schnell zurück in Gomez’ Zimmer und setze mich aufs Bett.
    »Guten Morgen.« Gomez lächelt mich an, will nach mir greifen. Ich zucke zurück und breche in Tränen aus. »Aber, Kätzchen! Clare, Baby, hey, hey...« Er kriecht schnell zu mir, und schon weine ich in seinen Armen. Ich muss daran denken, wie oft ich an Henrys Schulter geweint habe. Wo bist du?, frage ich mich verzweifelt. Ich brauche dich, hier und jetzt. Gomez sagt immer wieder meinen Namen. Was tue ich hier nur, ohne ein Kleidungsstück am Leib, weinend in den Armen eines ebenso nackten Gomez? Er reicht mir eine Schachtel Papiertücher, und ich putze mir die Nase, wische mir über die Augen und werfe ihm dann einen absolut verzweifelten Blick zu, der ihn offenbar verwirrt.
    »Wieder besser?«
    Nein. Was soll schon besser sein? »Ja.«
    »Was ist los?«
    Ich zucke die Achseln. Gomez schlüpft in die Rolle des Anwalts, der eine angeschlagene Zeugin kreuzverhört.
    »Clare, hast du schon mal mit einem Mann geschlafen?« Ich nicke. »Ist es wegen Charisse? Hast du ein schlechtes Gewissen wegen Charisse?« Ich nicke. »Hab ich was falsch gemacht?« Ich schüttle den Kopf. »Clare, wer ist Henry?« Ich starre ihn ungläubig an.
    »Woher weißt du?...«Jetzt ist es passiert. Mist. Scheißkerl.
    Gomez langt nach seinen Zigaretten auf dem Nachttisch und zündet sich eine an. Er wedelt das Streichholz aus und nimmt einen tiefen Zug. Mit einer Zigarette in der Hand wirkt Gomez irgendwie ... angezogener, auch wenn er es nicht ist. Stumm bietet er mir eine an, und ich nehme sie, obwohl ich nicht rauche. Im Moment scheint es genau das Richtige zu sein, zumal es mir Zeit verschafft, darüber nachzudenken, was ich sagen soll. Er zündet sie mir an, steht auf, wühlt in seinem Schrank herum, findet einen blauen, nicht besonders sauberen Bademantel und reicht ihn mir. Ich ziehe ihn an, er ist riesig. Rauchend sitze ich auf dem Bett und sehe zu, wie Gomez in eine Jeans schlüpft. Selbst in meinem Elend fällt mir auf, wie schön er ist, hoch gewachsen und breitschultrig und ... groß, eine ganz andere Art von Schönheit als Henrys pantherhafte Geschmeidigkeit. Sofort befällt mich ein schlechtes Gewissen, weil ich Vergleiche ziehe. Gomez stellt einen Aschenbecher neben mich, setzt sich aufs Bett und

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