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Die Frau des Zeitreisenden

Die Frau des Zeitreisenden

Titel: Die Frau des Zeitreisenden Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Audrey Niffenegger
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ist bleich vor Angst. Ich muss lächeln, weil ich weiß, was als Nächstes kommt. Wir stellen uns in die Schlange zum Gartenrestaurant. Henry wirft einen Blick in die Runde und überlegt.
    Vor uns in der Reihe steht ein sehr großer Mann mittleren Alters in einem gut geschnittenen braunen leichten Anzug; man kann nicht sehen, wo er die Brieftasche trägt. Henry tritt auf ihn zu, auf seiner ausgestreckten Hand liegt eine der Brieftaschen, die ich vorher gestohlen habe.
    »Sir? Ist das Ihre?«, fragt Henry leise. »Die lag auf dem Boden.«
    »Wie? Oh, hmm, nein.« Der Mann überprüft seine rechte Gesäßtasche, findet seine Brieftasche unversehrt, beugt sich zu Henry, um ihn besser zu verstehen, nimmt ihm die Brieftasche aus der Hand und öffnet sie. »Tja, die solltest du zum Wachpersonal bringen, da ist ziemlich viel Bargeld drin, ja.« Der Mann trägt eine Brille mit dicken Gläsern, durch die er Henry beim Sprechen anstarrt, und Henry greift um den Mann herum unter dessen Jackett und holt sich die Brieftasche. Da Henry ein kurzärmeliges T-Shirt trägt, trete ich hinter ihn, und er gibt mir die Brieftasche. Der große dünne Mann im braunen Anzug zeigt zur Treppe und erklärt Henry, wo er die Brieftasche abgeben soll. Henry verschwindet in die von dem Mann gewiesene Richtung, und ich gehe hinterher, überhole ihn und führe ihn durchs Museum zum Eingang und nach draußen, vorbei am Wachpersonal, auf die Michigan Avenue Richtung Süden, bis wir im Artists Cafe landen, wo wir uns mit dämonischem Grinsen Milchshakes und Pommes von unserem Sündengeld gönnen. Hinterher werfen wir alle Brieftaschen ohne Geld in einen Briefkasten, und ich miete uns ein Zimmer im Palmer House Hilton.
    »Und?«, frage ich, während ich auf dem Badewannenrand sitze und Henry beim Zähneputzen zusehe.
    »O-u?«, gibt Henry mit einem Mund voll Zahnpasta zurück.
    »Was meinst du?«
    Er spuckt aus. »Wozu?«
    »Zum Taschendiebstahl.«
    Er sieht mich im Spiegel an. »Nicht schlecht.« Er dreht sich um und blickt mich unverwandt an. »Ich hab’s geschafft!« Er grinst breit.
    »Du warst genial!«
    »Klar!« Das Grinsen erlischt. »Henry, ich reise nicht gern allein durch die Zeit. Mit dir ist es schöner. Kannst du nicht immer mit mir kommen?«
    Er steht mit dem Rücken zu mir, wir sehen uns im Spiegel an. Armes kleines Ich: In diesem Alter ist mein Rücken schmal, und meine Schulterblätter stehen ab wie werdende Flügel. Er dreht sich um, wartet auf eine Antwort, und ich weiß, was ich ihm - mir -sagen muss. Ich strecke die Hand aus, drehe ihn sanft um und ziehe ihn zu mir, bis er neben mir steht, auf gleicher Kopfhöhe, unsere Gesichter dem Spiegel zugewandt.
    »Hör zu.« Wir betrachten unsere Ebenbilder, verschwistert in der vergoldeten Badezimmerpracht des Palmer House. Wir haben beide die gleichen braunschwarzen Haare, haben beide schräg stehende Augen mit identischen dunklen Ringen von zu wenig Schlaf, unsere Ohren könnten ähnlicher nicht sein. Ich bin nur größer, muskulöser und muss mich rasieren. Er ist schmal und staksig, besteht nur aus Knien und Ellbogen. Ich streiche mir die Haare aus dem Gesicht, zeige ihm die Narbe von dem Unfall damals. Unbewusst ahmt er meine Geste nach, berührt die gleiche Narbe auf seiner Stirn.
    »Die sieht aus wie meine«, sagt mein Ich erstaunt. »Wie ist das passiert?«
    »Genau wie bei dir. Es ist die gleiche Narbe. Wir sind ein- und derselbe.«
    Ein durchscheinender Moment. Erst verstand ich es nicht, dann aber fiel es mir wie Schuppen von den Augen. Ich sehe, wie es passiert. Am liebsten wäre ich beide gleichzeitig, möchte ich noch einmal erleben, wie es ist, wenn mein Ich seine Ränder verliert und die Vermischung von Zukunft und Gegenwart zum ersten Mal sieht. Aber ich habe mich zu sehr daran gewöhnt, mir ist das Gefühl zu vertraut, und so bleibe ich abseits stehen, erinnere mich nur an das Wunder, neun zu sein und plötzlich zu sehen, zu wissen, dass mein Freund, Lehrmeister, Bruder nie ein anderer war als ich. Ich, nur ich. Diese Einsamkeit.
    »Du bist ich.«
    »Nur älter.«
    »Aber... was ist mit den anderen?«
    »Den anderen Zeitreisenden?«
    Er nickt.
    »Soweit ich weiß, gibt es keine. Jedenfalls sind mir nie welche begegnet.«
    Eine Träne erscheint in seinem linken Auge. Als ich klein war, stellte ich mir eine ganze Gesellschaft von Zeitreisenden vor, und Henry, mein Lehrer, war ein Abgesandter, der mich einweisen sollte, bis man mich schließlich in die große Gemeinde

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