Die Frau des Zeitreisenden
die Kleider. Sie passen perfekt, heute Nacht werden sie mich schön warm halten.«
»Ich muss gleich ins Haus zurück.«
»Macht nichts, ist auch fast schon dunkel. Hast du morgen Schule?«
»Ja.«
»Den wievielten haben wir heute?«
»Donnerstag, den 29. September 1977.«
»Sehr hilfreich. Danke.«
»Wieso weißt du das denn nicht?«
»Na ja, ich bin eben erst angekommen. Vor ein paar Minuten war noch Montag, der 27. März 2000. Ein verregneter Morgen, ich war gerade beim Toast machen.«
»Aber du hast es mir selbst aufgeschrieben.« Sie holt einen Papierbogen mit Philips Kanzleibriefkopf hervor und hält ihn mir hin. Ich gehe zu ihr, nehme das Blatt und lese interessiert das von mir in sorgfältiger Druckschrift aufgeschriebene Datum. Ich überlege angestrengt, wie ich dem kleinen Mädchen, das Clare momentan noch ist, die Wechselfälle des Zeitreisens am besten erklären könnte.
»Es ist so: Du weißt, wie man einen Kassettenrekorder benutzt?«
»Ja.«
»Gut. Du legst also eine Kassette ein und spielst sie von Anfang bis Ende, richtig?«
»Ja...«
»Genauso verläuft dein Leben. Morgens stehst du auf, frühstückst, putzt dir die Zähne und gehst zur Schule, stimmt’s? Du stehst nicht auf, findest dich plötzlich in der Schule wieder, isst mit Helen und Ruth zu Mittag und dann bist du mit einem Mal zu Hause und ziehst dich an, stimmt’s?«
Clare kichert. »Stimmt.«
»Aber bei mir, da ist das anders. Als Zeitreisender springe ich oft von einer Zeit in die nächste. Es ist also, als würdest du die Kassette einschalten und eine Weile laufen lassen, aber dann sagst du dir Oh, ich möchte gern noch mal das eine Stück hören, also spielst du es noch mal, und dann spulst du wieder an die Stelle, wo du abgebrochen hast, aber du hast zu weit gespult und musst wieder zurückspulen, bist aber trotzdem noch zu weit vorn. Verstehst du?«
»Einigermaßen.«
»Na egal, war ohnehin nicht die beste Analogie. Im Prinzip ist es so: Ich verirre mich manchmal in irgendeiner Zeit und weiß nicht, in welcher.«
»Was ist Analogie?«
»Wenn du eine Sache zu erklären versuchst, indem du sagst, sie sei wie eine andere. Im Moment zum Beispiel fühle ich mich in diesem schönen Pullover froh wie ein Floh im Stroh, und du bist schön wie die Sonne, und wenn du nicht bald reingehst, wird Etta sauer wie eine Zitrone.«
»Schläfst du hier? Du könntest auch in unser Haus, wir haben ein Gästezimmer.«
»Gott, das ist wirklich lieb von dir. Leider ist es mir nicht gestattet, deine Familie vor 1991 kennen zu lernen.«
Clare ist völlig verdutzt. Ein Teil des Problems liegt vermutlich darin, dass sie sich keine Daten jenseits der 70er vorstellen kann. Ich kann mich noch gut erinnern, dass ich das gleiche Problem mit den 6oern hatte, als ich in ihrem Alter war.
»Warum nicht?«
»Das gehört zu den Regeln. Zeitreisende dürfen nicht herumlaufen und mit normalen Leuten reden, wenn sie in deren Zeit sind, weil wir alles vermasseln könnten.« Ehrlich gesagt, glaube ich das nicht. Jedes Ereignis geschieht nur einmal so wie es geschieht, daran ist nichts zu ändern. Ich halte nichts von der Idee der gespaltenen Universen.
»Aber mit mir redest du.«
»Du bist eine Ausnahme. Du bist mutig und klug und kannst gut Geheimnisse für dich behalten.«
Clare ist verlegen. »Ich hab’s Ruth erzählt, aber sie wollte mir nicht glauben.«
»Oh. Aber mach dir deswegen keine Sorgen. Mir glaubt auch kaum jemand. Vor allem Ärzte nicht. Ärzte glauben einem erst, wenn man ihnen etwas beweisen kann.«
»Ich glaube dir.«
Clare steht ungefähr eineinhalb Meter von mir entfernt. Ihr kleines bleiches Gesicht fängt das letzte orangene Licht aus dem Westen. Ihr Haar ist straff nach hinten zum Pferdeschwanz gebunden, und sie trägt Jeans, dazu einen dunklen Pullover, über dessen Brust Zebras rennen. Ihre Hände sind geballt, sie wirkt wild entschlossen. Genauso, denke ich traurig, hätte unsere Tochter ausgesehen.
»Vielen Dank, Clare.«
»Ich muss jetzt rein.«
»Gute Idee.«
»Kommst du wieder?«
Ich rufe die Liste aus dem Gedächtnis ab. »Am 16. Oktober. Ein Freitag. Komm gleich nach der Schule hierher. Und bring das kleine blaue Tagebuch mit, das dir Megan zum Geburtstag geschenkt hat, und einen blauen Kugelschreiber.« Ich wiederhole das Datum, den Blick auf Clare gerichtet, um sicherzugehen, dass sie es sich merkt.
»Au revoir, Clare.«
»Aurevoir...«
»Henry.«
»Au revoir, Henri.« Ihre Aussprache ist schon jetzt
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