Die Frau des Zeitreisenden
aufnehmen würde. Ich fühle mich immer noch wie ein Schiffbrüchiger, wie der Letzte einer einst weit verbreiteten Spezies. Wie Robinson Crusoe, der einen verräterischen Fußabdruck am Strand entdeckt und dann feststellt, es ist sein eigener. Mein kleines Ich, zart wie ein Blatt, dünn wie Wasser, beginnt zu weinen. Ich halte ihn, halte mich eine ganze Weile fest im Arm.
Später bestellen wir beim Zimmerservice heiße Schokolade und sehen uns im Fernsehen Johnny Carson an. Henry schläft bei hellem Licht ein. Am Ende der Show blicke ich zu ihm hinüber, aber er ist fort, ist wieder in mein altes Zimmer in der Wohnung meines Vaters verschwunden, steht schlaftrunken neben dem alten Bett und sinkt dankbar hinein. Ich schalte den Fernseher und die Nachttischlampe aus. Straßenlärm von 1973 dringt durchs offene Fenster. Ich möchte nach Hause. Einsam und verlassen liege ich auf dem harten Hotelbett. Ich verstehe es noch immer nicht.
Sonntag, 10. Dezember 1978 (Henry ist 15 und 15)
Henry: Ich bin mit meinem Ich in meinem Zimmer. Er ist aus dem nächsten März gekommen. Wir tun, was wir oft tun, wenn wir ein wenig Privatsphäre haben, wenn es draußen kalt ist, wenn wir beide die Pubertät hinter uns haben, uns aber noch nicht so recht an echte Mädchen trauen. Ich glaube, die meisten Leute würden so handeln, wenn sich ihnen solche Gelegenheiten böten. Ich meine, ich bin ja nicht schwul oder so.
Es ist Sonntagvormittag. Ich höre das Glockenläuten von St. Joe. Dad kam gestern Abend spät nach Hause, wahrscheinlich ist er nach dem Konzert noch im Exchequer eingekehrt. Er war so betrunken, dass er auf der Treppe hingefallen ist und ich ihn in die Wohnung schleppen und ins Bett bringen musste. Jetzt hustet er, und ich höre ihn in der Küche herumhantieren.
Mein anderes Ich ist nicht bei der Sache, späht ständig zur Tür. »Was ist denn?«, frage ich. »Nichts«, entgegnet er. Ich stehe auf, um abzuschließen. »Nein«, sagt er. Das Sprechen scheint ihn sehr anzustrengen. »Stell dich nicht an«, sage ich.
Ich höre Dads schweren Schritt vor der Tür. »Henry?«, ruft er. Der Türknopf dreht sich langsam, und mir wird schlagartig klar, dass ich versehentlich aufgesperrt habe, und als Henry zur Tür stürzt, ist es zu spät: Dad streckt den Kopf herein, und da sind wir, in flagrante delicto. »Oh«, sagt er mit großen Augen und angewidertem Blick. »Das darf doch nicht wahr sein, Henry.« Er schließt die Tür, und ich höre ihn zu seinem Zimmer gehen. Ich werfe meinem Ich einen vorwurfsvollen Blick zu, ziehe mir dabei Jeans und T-Shirt an. Dann gehe ich über den Flur zu Dads Zimmer. Die Tür ist zu. Ich klopfe an. Keine Antwort. Ich warte. »Dad?« Schweigen. Ich öffne die Tür, bleibe auf der Schwelle stehen. »Dad?« Er sitzt mit dem Rücken zu mir auf dem Bett, rührt sich nicht, und ich bleibe eine Weile stehen, bringe es aber nicht über mich, zu ihm zu gehen. Schließlich mache ich die Tür zu, gehe zurück in mein Zimmer.
»Das war einzig und allein deine Schuld«, sage ich streng zu meinem Ich. Er hat seine Jeans an und sitzt auf dem Stuhl, den Kopf in die Hände gestützt. »Du wusstest Bescheid, wusstest genau, was geschieht und hast kein Wort gesagt. Wo ist dein Selbsterhaltungstrieb? Was verdammt noch mal ist mit dir los? Worin liegt der Sinn, die Zukunft zu kennen, wenn du uns derart peinliche Szenen nicht ersparen kannst...«
»Sei still«, krächzt Henry. »Sei einfach nur still.«
»Ich will aber nicht still sein«, entgegne ich gereizt. »Du hättest doch nur sagen müssen...«
»Hör zu.« Er blickt resigniert zu mir auf. »Es war wie ... wie an dem Tag auf der Eisbahn.«
»O nein.« Vor ein paar Jahren sah ich, wie ein kleines Mädchen im Indian Head Park von einem Eishockeypuck am Kopf getroffen wurde. Es war schrecklich. Später erfuhr ich, dass sie im Krankenhaus gestorben war. Und dann bin ich immer wieder zu diesem Tag zurückgereist und wollte ihre Mutter warnen, aber es ging nicht. Es war, als säße ich als Zuschauer im Kino. Als wäre ich ein Geist. Ich wollte schreien, Nein, geh mit ihr nach Hause, lass sie nicht in die Nähe der Eisbahn, bring sie weg, sonst wird sie verletzt, sonst muss sie sterben, aber ich merkte, dass die Worte nur in meinem Kopf waren und alles weiterlief wie zuvor.
Henry sagt: »Du redest von Veränderung der Zukunft, aber für mich ist das Vergangenheit, und soweit ich weiß, kann ich nichts daran ändern. Im Ernst, ich hab’s ja versucht, aber
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