Die Frau des Zeitreisenden
besser als meine. Clare dreht sich um und rennt den Weg hinauf, in die Arme des beleuchteten und wartenden Hauses, und ich wende mich der Dunkelheit zu, gehe langsam über die Wiese. Später am Abend werfe ich hinter Dinas Fish’n Fry die Krawatte in die Mülltonne.
ÜBERLEBENSTRAINING
Donnerstag, 7. Juni 1973 (Henry ist 27 und 9)
Henry: Es ist ein sonniger Junitag im Jahr 1973, und ich stehe mit meinem neunjährigen Ich gegenüber vom Art Institute of Chicago. Er kommt vom nächsten Mittwoch, ich bin aus 1990 angereist. Vor uns liegt ein langer Nachmittag und Abend, die wir nach Lust und Laune verbummeln können, und so haben wir uns an einem der großartigsten Kunstmuseen der Welt zu einer kleinen Lektion in Sachen Taschendiebstahl eingefunden.
»Wollen wir uns nicht einfach nur Kunst ansehen?«, fleht Henry. Er ist nervös, denn er hat noch nie gestohlen.
»Nein. Du musst das beherrschen. Wie willst du überleben, wenn du nichts klauen kannst?«
»Durch Betteln.«
»Betteln ist eine Qual, dauernd wirst du von der Polizei abgeschleppt. Hör gut zu: Wenn wir im Museum sind, hältst du dich bitte von mir fern und tust, als wenn wir uns nicht kennen. Aber bleib in meiner Nähe, damit du beobachten kannst, was ich mache. Wenn ich dir was gebe, lass es nicht fallen und steck es so schnell wie möglich ein. Verstanden?«
»Glaub schon. Können wir uns den heiligen Georg ansehen?«
»Klar.« Wir überqueren die Michigan Avenue, gehen an Studenten und Hausfrauen vorbei, die sich auf der Eingangstreppe vor dem Museum sonnen. Henry tätschelt im Vorbeigehen einen der Bronzelöwen.
Mir ist nicht ganz wohl bei der Sache. Einerseits bringe ich mir lediglich dringend notwendige Überlebenstaktiken bei. Weitere Lektionen in dieser Serie beinhalten Ladendiebstahl, Leute vermöbeln, Schlösser knacken, Bäume erklimmen, Autofahren, Einbruch, Mülltonnen durchsuchen und die Anleitung zum Gebrauch von Gegenständen wie Jalousien und Mülltonnendeckel als Waffe. Andererseits korrumpiere ich mein armes unschuldiges kleines Ich. Ich seufze hörbar. Aber jemand muss es ja tun.
Heute ist eintrittsfreier Tag, es wimmelt also von Menschen. Wir stehen in der Schlange, passieren den Eingang und steigen langsam die grandiose Mitteltreppe hoch. Wir gehen in die europäische Abteilung und arbeiten uns von den Niederländern des siebzehnten Jahrhunderts zu den Spaniern des fünfzehnten Jahrhunderts zurück. Der heilige Georg steht wie immer bereit, den Drachen mit seiner feinen Lanze zu durchbohren, während die rosagrüne Prinzessin gelassen im Mittelgrund wartet. Meine kleine Version und ich lieben den gelbbauchigen Drachen von ganzem Herzen, und jedes Mal sind wir erleichtert, dass sein verhängnisvolles Schicksal noch nicht vollstreckt ist.
Fünf Minuten stehen wir vor Bernardo Martorells Gemälde, dann dreht er sich zu mir. Im Moment haben wir die Galerie für uns.
»Es ist gar nicht schwer«, sage ich. »Halt die Augen auf. Such dir jemand, der abgelenkt ist. Überleg dir, wo die Brieftasche sein könnte. Männer stecken sie meistens hinten in die Hosentasche oder in die Innentasche ihres Jacketts. Bei Frauen sollte die Handtasche hinten auf dem Rücken sein. Auf der Straße kannst du dir einfach die ganze Tasche schnappen, musst dir dann aber sicher sein, dass du schneller bist als ein möglicher Verfolger. Stressireier läuft es, wenn du etwas entwendest, ohne dass derjenige es merkt.«
»Ich hab einen Film gesehen, da üben sie mit Anzügen und Kostümen, an denen kleine Glöckchen befestigt sind, und sobald der Dieb die Kleidung beim Herausnehmen der Brieftasche bewegt, bimmeln die Glöckchen.«
»Ja, ich erinnere mich an den Film. Das kannst du mal zu Hause probieren. Jetzt folge mir.« Ich führe Henry vom fünfzehnten ins neunzehnte Jahrhundert, plötzlich befinden wir uns inmitten des französischen Impressionismus. Das Art Institute ist berühmt für seine impressionistische Sammlung. Man kann kommen, wann man will, die Räume sind immer brechend voll mit Menschen, die sich den Hals verrenken, um einen Blick auf Seurats La Grande Jatte oder einen Heuhaufen von Monet zu werfen. Henry kann die Gemälde nicht würdigen, weil er nicht über die Köpfe der Erwachsenen hinwegsehen kann, aber er ist ohnehin zu nervös. Ich lasse den Blick durch den Raum schweifen. Eine Frau bückt sich über ihr Kind, das strampelt und schreit. Wahrscheinlich Schlafenszeit. Ich nicke Henry zu und nähere mich der Frau, die vor
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