Die Frau des Zeitreisenden
sind. Leise schließe ich die Tür und schiebe wieder das Gitter vor. Meine alten Sachen sind in einer Einkaufstüte. Später will ich versuchen, einen Kleidercontainer der Heilsarmee zu finden. Gomez sieht mich erwartungsvoll an, wie ein großer Hund, der gespannt ist, ob ich noch ein Stück Fleisch habe.
Wobei mir einfällt. »Ich sterbe vor Hunger. Gehen wir zu Ann Sather.«
»Ann Sather? Ich dachte, du schlägst einen Banküberfall vor oder wenigstens Totschlag. Du bist gerade so in Schwung, Mann, da kannst du nicht aufhören.«
»Ich muss die Arbeit unterbrechen, um aufzutanken. Komm schon.« Von der Gasse aus gehen wir über den Parkplatz des schwedischen Restaurants Ann Sather’s. Der Wärter beäugt uns stumm beim Durchqueren seines Königreichs. Wir laufen schräg hinüber zur Belmont Avenue. Es ist erst neun, und auf der Straße drängelt sich die übliche Mischung aus durchgeknallten Obdachlosen, Ausreißern, Clubgängern und spießigen Kicksuchern. Ann Sather’s ragt wie eine Insel der Normalität inmitten der Tattoo-Studios und Kondomboutiquen hervor. Wir treten ein und warten an der Bäckerei, bis man uns einen Platz zuweist. Mein Magen knurrt. Die schwedische Ausstattung wirkt beruhigend, der ganze Raum besteht aus Holztäfelung und roter Marmorierung. Wir werden in die Raucherzone geführt, direkt vor den Kamin. Es geht bergauf. Wir ziehen unsere Mäntel aus, machen es uns bequem, studieren die Speisekarte, auch wenn wir sie, als ewige Chicagoer, vermutlich auswendig singen könnten, allerdings zweistimmig. Gomez legt seine Rauchutensilien neben das Besteck.
»Stört es dich?«
»Ja. Aber mach ruhig.« Der Preis für Gomez’ Gesellschaft ist ein ständiges Umhülltsein von waberndem Zigarettenqualm, der ihm aus der Nase strömt. Seine Finger, die vom Nikotin ganz dunkelgelb sind, flattern geschickt über das dünne Papierchen, wenn er den Tabak zu einem dicken Zylinder dreht, dann leckt er das Papier an, klebt es fest, steckt sich die Zigarette zwischen die Lippen und zündet sie an. »Ahh.« Eine halbe Stunde ohne Nikotin ist für Gomez nicht normal. Ich sehe es immer gern, wenn Leute ihre Gelüste befriedigen, auch wenn ich selbst sie nicht teile.
»Rauchst du nicht? Auch nichts anderes?«
»Ich laufe.«
»Klar, stimmt, du bist in Bestform. Ich dachte schon, du hättest Nick umgebracht, dabei warst du nicht mal aus der Puste.«
»Der war zu betrunken, um zu kämpfen. Ein großer besoffener Sandsack.«
»Und wieso hast du ihm dann so zugesetzt?«
»Es war seine eigene Blödheit.« Der Kellner kommt, sagt uns, er heiße Lance, und das Tagesgericht sei Lachs mit Erbsenpüree. Er nimmt unsere Getränkebestellung auf und saust davon. Ich spiele mit dem Milchspender. »Er sah, was ich anhatte, zog den Schluss, dass ich leichte Beute bin, wurde widerwärtig, wollte mich zusammenschlagen, mochte nicht glauben, dass er lieber die Finger davon lassen sollte und hat eine Überraschung erlebt. Ich habe nur meine eigenen Interessen vertreten, ehrlich.«
Gomez macht ein nachdenkliches Gesicht. »Und die wären?«
»Wie bitte?«
»Henry. Ich mag vielleicht wie ein Hornochse aussehen, aber in Wirklichkeit ist dein alter Onkel Gomez nicht ganz ahnungslos. Du bist mir seit einiger Zeit aufgefallen, und zwar bevor unsere kleine Clare dich mit nach Hause genommen hat. Vielleicht bist du dir darüber nicht im Klaren, aber in gewissen Kreisen genießt du einen bescheidenen Ruf. Ich kenne viele Leute, die dich kennen. Oder sagen wir lieber: Frauen. Frauen, die dich kennen.« Er sieht mich mit zusammengekniffenen Augen durch den Dunst seiner Zigarette an. »Sie erzählen reichlich seltsame Sachen.« Lance bringt meinen Kaffee und Gomez’ Milch. Wir bestellen: für Gomez einen Cheeseburger und Pommes, für mich Erbsensuppe, den Lachs, Süßkartoffeln und Obstsalat. Mir ist, als würde ich gleich umkippen, wenn ich nicht schnell viele Kalorien bekomme. Lance entfernt sich eilends. Es fällt mir schwer, Interesse für die Missetaten meines früheren Ichs aufzubringen, geschweige denn, sie vor Gomez zu rechtfertigen. Geht ihn schließlich nichts an. Aber er wartet auf meine Antwort. Ich verrühre die Sahne im Kaffee und sehe zu, wie der leichte weiße Schaum sich in Wolken auflöst. Ich schlage alle Vorsicht in den Wind. Spielt ohnehin keine Rolle.
»Was möchtest du denn wissen, Genosse?«
»Alles. Ich möchte wissen, warum ein scheinbar freundlicher Bibliothekar einen Kerl wegen nichts krankenhausreif
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