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Die Frau des Zeitreisenden

Die Frau des Zeitreisenden

Titel: Die Frau des Zeitreisenden Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Audrey Niffenegger
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schlägt und dabei Kindergärtnerkleidung trägt. Ich möchte wissen, warum sich Ingrid Carmichel vor acht Tagen das Leben nehmen wollte. Ich möchte wissen, warum du im Moment zehn Jahre älter aussiehst als bei unserer letzten Begegnung. Deine Haare werden schon grau. Ich möchte wissen, warum du ein Sicherheitsschloss knacken kannst. Ich möchte wissen, warum Clare ein Foto von dir hatte, noch bevor sie dich überhaupt kennen gelernt hat.«
    Clare hatte ein Foto von mir, das vor 1991 entstanden ist? Das ist mir neu. »Wie sehe ich auf dem Foto aus?«
    Gomez mustert mich. »Eher wie jetzt, nicht wie vor zwei Wochen, als du bei uns zum Essen warst.« Vor zwei Wochen? Gütiger Himmel, dann sind Gomez und ich uns erst zweimal begegnet.
    »Das Bild wurde im Freien aufgenommen. Du lächelst. Auf der Rückseite steht Juni 1988.« Das Essen kommt, und wir unterbrechen unsere Unterhaltung, um alles auf dem kleinen Tisch unterzubringen. Dann fange ich zu essen an, als gäbe es kein Morgen.
    Gomez sitzt da, sieht mir zu, rührt seinen Teller nicht an. Im Gerichtssaal habe ich erlebt, wie Gomez unwillige Zeugen auf genau diese Weise ansieht. Er zwingt sie förmlich, etwas auszuspucken. Mir macht es nichts aus, ihm alles zu erzählen, aber erst will ich essen. Im Grunde muss Gomez sogar die Wahrheit kennen, denn in den folgenden Jahren wird er immer wieder meinen Arsch retten.
    Ich bin mit meinem Lachs halb fertig, und er sitzt immer noch da. »Iss doch, iss«, sage ich in meiner besten Imitation von Mrs Kim. Er stippt eine Fritte in Ketchup und kaut darauf herum. »Keine Angst, ich werde gestehen. Ich möchte nur noch mein letztes Mahl in Frieden genießen.« Da kapituliert er und isst endlich seinen Burger. Wir sagen beide nichts mehr, bis ich mit dem Obstsalat fertig bin. Lance bringt mir noch mal Kaffee. Ich gebe Milch dazu und rühre um. Gomez sieht mich an, als würde er mich am liebsten schütteln. Ich beschließe, mich auf seine Kosten zu amüsieren.
    »Gut. Die Lösung lautet: Zeitreisen.«
    Gomez verdreht die Augen und verzieht sein Gesicht, sagt aber nichts.
    »Ich reise durch die Zeit. Im Augenblick bin ich sechsunddreißig Jahre alt. Heute Nachmittag war der 9. Mai 2000, ein Dienstag. Ich war bei der Arbeit, hatte gerade eine Präsentation für eine Gruppe des bibliophilen Caxton Clubs beendet und war ins Magazin gegangen, um Bücher in die Regale zurückzuräumen, als ich mich plötzlich in der School Street im Jahr 1991 wiederfand. Wie immer war mein Problem, mir etwas zum Anziehen zu besorgen. Ich versteckte mich eine Weile unter einer Veranda. Mir war kalt, aber es kam niemand vorbei, bis schließlich ein junger Typ auftauchte, der wie ein bunter - nun, du hast gesehen, wie ich angezogen war. Ich hab ihn überfallen, ihm sein Geld und alles, was er am Leib trug, abgenommen, außer der Unterwäsche. Er hatte eine Heidenangst. Ich glaube, er dachte, ich will ihn vergewaltigen oder so. Jedenfalls hatte ich was zum Anziehen. Gut. Aber in einem solchen Viertel kannst du dich nicht so zeigen, ohne gewisse Missverständnisse auszulösen. Ich musste mir also den ganzen Abend von diversen Leuten dummes Zeug anhören, und dein Freund hat zufällig das Fass zum Überlaufen gebracht. Es tut mir Leid, wenn es ihn schlimm erwischt hat. Ich wollte einfach nur seine Kleidung, vor allem die Schuhe.« Gomez wirft einen Blick unter den Tisch auf meine Füße. »In solche Situationen gerate ich ständig. Im Ernst. Irgendwas stimmt nicht mit mir. Ich verirre mich in der Zeit, ohne jeden Grund. Ich kann es nicht kontrollieren, weiß nie, wann es passiert, oder wo und wann ich ankomme. Um mir zu helfen, knacke ich also Schlösser, begehe Ladendiebstahl, stehle Brieftaschen und Geldbörsen, überfalle Leute, geh schnorren, breche ein, klaue Autos, lüge, haue, steche und verstümmle. Es gibt nichts, was ich nicht schon getan hätte.«
    »Mord.«
    »Na ja, jedenfalls nicht dass ich wüsste. Auch missbraucht habe ich noch nie jemanden.« Ich beobachte ihn beim Sprechen. Sein Gesicht verrät nichts. »Ingrid. Kennst du Ingrid näher?«
    »Ich kenne Celia Attley.«
    »Oje. Du pflegst vielleicht seltsame Bekanntschaften. Wie wollte Ingrid sich denn umbringen?«
    »Mit einer Überdosis Valium.«
    »1991? Ja, klar. Das wäre Ingrids vierter Selbstmordversuch.«
    »Was?«
    »Ach, das hast du also nicht gewusst? Celia streut offenbar nur gezielt Informationen. Am 2. Januar 1994 gelang es Ingrid übrigens doch, sich um die Ecke zu bringen. Mit

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