Die Frau des Zeitreisenden
Manteltasche, worauf er mir den Arm um die Schultern legt. Ich bin ziemlich aufgeregt, denn Henry und ich sind noch nie tanzen gewesen, außerdem liebe ich das Aragon in seiner ganzen verfallenden kitschigen spanischen Pracht. Meine Grandma Meagram erzählte oft, wie sie hier in den dreißiger Jahren zur Musik der Bigbands tanzte, als alles noch neu und hübsch war und es noch keine Leute gab, die auf den Baikonen fixten, oder Urinlachen in den Männertoiletten. Aber c’est la vie, die Zeiten ändern sich, und so ist es eben jetzt.
Ein paar Minuten lang stehen wir in der Schlange. Henry wirkt angespannt, auf der Hut. Er hält meine Hand, blickt aber suchend über die Menge. Ich nutze die Gelegenheit, ihn mir genauer anzusehen. Henry ist schön. Seine Haare sind schulterlang, zurückgekämmt, schwarz und glänzend. Er ist katzenhaft, dünn, sprüht vor Unruhe und Kraft. Er sieht aus, als könnte er zubeißen. Henry trägt einen schwarzen Mantel und ein weißes Baumwollhemd mit Doppelmanschetten, die offen unter seinen Mantelärmeln baumeln, eine hübsche grell grüne Seidenkrawatte, die er gerade locker genug trägt, dass ich die Muskeln in seinem Hals sehen kann, schwarze Jeans und schwarze Baseballschuhe. Er fasst meine Haare zusammen und schlingt sie sich ums Handgelenk. Einen kurzen Moment lang bin ich seine Gefangene, dann bewegt die Reihe sich vorwärts, und er lässt mich los.
Wir werden eingelassen und strömen mit Massen von Menschen ins Gebäude. Im Aragon gibt es viele lange Gänge, Nischen und Balkone, die sich um den Hauptsaal ziehen und bestens dazu eignen, um sich zu verlaufen oder zu verstecken. Henry und ich gehen oben zu einem Balkon dicht bei der Bühne und setzen uns an einen winzigen Tisch. Wir ziehen die Mäntel aus. Henry schaut mich erstaunt an.
»Gut siehst du aus. Ein tolles Kleid, aber kannst du darin auch tanzen?«
Mein Kleid ist aus hautenger fliederfarbener Seide, aber es ist elastisch genug, um sich darin zu bewegen. Als ich es heute Nachmittag vor dem Spiegel ausprobierte, fand ich es schön. Sorgen dagegen machen mir meine Haare, denn durch die trockene Winterluft scheinen sie sich verdoppelt zu haben. Ich fange an, sie zu flechten, aber Henry hält mich auf.
»Bitte nicht, ich will dich mit offenen Haaren sehen.«
Die Vorgruppe beginnt mit ihrem Set. Wir hören geduldig zu. Alle schlendern umher, reden, rauchen. Im Hauptsaal gibt es keine Sitzplätze. Der Lärmpegel ist phänomenal.
Henry beugt sich vor und brüllt mir ins Ohr: »Willst du was trinken?«
»Nur eine Cola.«
Er verschwindet zur Bar. Ich stütze die Arme aufs Balkongeländer und beobachte die Menge. Mädchen in Vintage-Kleidern, Mädchen in Kampfmontur, Typen mit Irokesenschnitt, Typen in Flanellhemden. Leute beiden Geschlechts in T-Shirts und Jeans. College-Kids und Anfang Zwanzigjährige, dazwischen ein paar vereinzelte Oldies.
Henry bleibt ziemlich lange weg. Die Vorgruppe hört auf, spärlicher Applaus, und Roadies fangen an, die Sachen der Band abzubauen und durch halbwegs identische Instrumente zu ersetzen. Schließlich bin ich das Warten leid, lasse Tisch und Mäntel im Stich und zwänge mich durch das dichte Gedränge auf dem Balkon die Treppe hinunter in die lange düstere Halle, in der sich die Bar befindet. Henry ist nicht zu sehen. Langsam schlendere ich durch die Gänge und Nischen, blicke mich suchend um und bemühe mich, nicht so auszusehen, als würde ich suchen.
Dann entdecke ich ihn am Ende des Gangs. Er steht so dicht vor einer Frau, dass ich im ersten Moment meine, sie umarmen sich. Sie lehnt mit dem Rücken an der Wand, und Henry beugt sich über sie, eine Hand über ihrer Schulter an die Wand gestützt. Die Intimität ihrer Haltung verschlägt mir den Atem. Sie ist blond und auf eine sehr deutsche Art schön, groß und dramatisch.
Als ich näher komme, sehe ich, dass sie sich nicht küssen, sondern streiten. Henry benutzt seine freie Hand, um allem, was er der Frau ins Gesicht schreit, Nachdruck zu verleihen. Plötzlich weicht ihre gelassene Miene und sie wird wütend, bricht fast in Tränen aus. Sie schreit ihm etwas ins Gesicht. Henry tritt einen Schritt zurück und wirft ungeduldig die Hände hoch. Ich höre gerade noch den Schluss, als er von ihr weggeht:
»Ich kann nicht, Ingrid, ich kann einfach nicht! Tut mir wirklich Leid.«
»Henry!« Sie rennt hinter ihm her, da sehen sie beide, wie ich völlig reglos mitten im Gang stehe. Henry packt mich grimmig am Arm und zieht mich
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