Die Frau des Zeitreisenden
plötzlich ist mir, als wäre ich unsichtbar geworden. Dann aber ist das Gefühl genauso schnell wieder vorbei, ich bleibe noch eine Weile still stehen, ziehe dann meinen Bademantel an, öffne die Tür und gehe weiter.
Samstag, 22. Dezember 1991 (Henry ist 28 und 33)
Henry: Um 5.25 Uhr klingelt die Türglocke, immer ein schlechtes Omen. Ich wanke zur Sprechanlage und drücke auf den Knopf.
»Ja?«
»Hey. Lass mich rein.« Wieder drücke ich den Knopf, und der grässliche Summton, der den Besucher in meinem trauten Heim willkommen heißt, wird durch die Leitung übertragen. Fünfundvierzig Sekunden später ruckelt der Aufzug und hangelt sich röchelnd herauf. Ich ziehe mir den Bademantel über, gehe in den Flur hinaus und beobachte, wie sich die Fahrstuhlkabel in dem kleinen Sicherheitsfenster bewegen. Dann schwebt die Kabine in Sicht, bleibt stehen, und natürlich, es ist niemand anders als ich.
Er stößt die Tür auf und tritt in den Flur, nackt, unrasiert und mit sehr kurzem Haar. Rasch gehen wir durch den leeren Flur und huschen in die Wohnung. Ich schließe die Tür, und einen Augenblick lang stehen wir da und mustern uns.
»Na«, sage ich, nur um das Schweigen zu brechen. »Wie geht’s?«
»Nicht sehr gut. Den wievielten haben wir heute?«
»Den 22. Dezember 1991. Samstag.«
»Oh, spielen heute Abend die Violent Femmes im Aragon?«
»Ja.«
Er lacht. »Mann. Das war vielleicht ein entsetzlicher Abend.« Er geht hinüber zum Bett - meinem Bett, wohlgemerkt - legt sich hin und zieht sich die Decke über den Kopf. Ich setze mich neben ihn.
»Hey.« Keine Antwort. »Von wann kommst du?«
»13. November 1996. Ich wollte gerade ins Bett. Also lass mich eine Runde schlafen, sonst wird es dir in fünf Jahren aufrichtig Leid tun.«
Das erscheint mir einleuchtend. Ich ziehe den Bademantel aus und lege mich wieder ins Bett. Allerdings bin ich nun auf der falschen Seite, nämlich Clares, wie ich es mittlerweile sehe, weil mein Doppelgänger meinen Platz in Beschlag nimmt. Alles auf dieser Seite ist fast unmerklich anders. Wie wenn man ein Auge schließt, etwas aus der Nähe betrachtet und es dann mit dem anderen Auge anblickt. Genau das mache ich jetzt, ich betrachte den Sessel, auf dem meine Kleider verstreut liegen, einen pfirsichfarbenen Rest am Grund eines Weinglases, das auf dem Fenstersims steht, die Rückseite meiner rechten Hand. Meine Fingernägel müssten geschnitten werden, und die Wohnung erfüllt wahrscheinlich die Bedingungen für Bundesgelder zum Katastrophenschutz. Vielleicht erklärt sich mein anderes Ich ja bereit mit anzupacken und hilft ein wenig im Haushalt, um sich seinen Unterhalt zu verdienen. Im Kopf gehe ich den Inhalt des Kühlschranks und der Speisekammer durch und komme zu dem Schluss, dass wir gut eingedeckt sind. Ich habe vor, Clare heute Abend mitzubringen, und bin mir nicht sicher, wohin mit meinem überflüssigen Körper. Mir geht durch den Kopf, dass Clare es vorziehen könnte, mit dieser späteren Ausgabe von mir zusammen zu sein, denn immerhin kennen die beiden sich besser. Irgendwie deprimiert mich diese Vorstellung. Ich versuche mir in Erinnerung zu rufen, dass alles, was jetzt abgezogen wird, später hinzukommt, bin aber dennoch besorgt und wünschte, einer von uns würde gehen.
Ich denke über mein Double nach. Eingerollt liegt er da, wie ein Igel, das Gesicht von mir abgewandt, offenbar schlafend. Ich beneide ihn. Er ist ich, aber ich bin noch nicht er. Er hat fünf Jahre eines Lebens hinter sich, die ich noch nicht kenne, die noch fest eingerollt sind und darauf warten, aufzuspringen und zuzubeißen. Und alle Freuden, die bereitlagen - er hat sie genossen; auf mich warten sie noch wie eine Schachtel unangetasteter Pralinen.
Ich versuche, ihn durch Clares Augen zu sehen. Warum das kurze Haar? Ich fand meine schwarzen, gewellten, schulterlangen Haare immer schön, seit der Highschoolzeit habe ich sie so getragen. Aber früher oder später lasse ich sie wohl abschneiden. Mir kommt in den Sinn, dass meine Frisur zu den vielen Dingen gehört, die Clare daran erinnern müssten, dass ich nicht genau der Mann bin, den sie seit ihrer frühesten Kindheit kennt. Ich bin eine Annäherung, die sie verstohlen an das Ich heranführt, das in ihrem Kopf existiert. Was wäre ich ohne sie?
Jedenfalls nicht der Mann, der auf der anderen Bettseite langsam und tief atmet. Auf Hals und Rücken erstrecken sich in sanften Wellenlinien Wirbel und Rippen. Seine Haut ist glatt, kaum
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