Die Frau des Zeitreisenden
behaart, spannt sich fest über Muskeln und Knochen. Er ist erschöpft, schläft aber dennoch so, als könnte er jeden Augenblick aufspringen und davonrennen. Strahle ich wirklich so viel Anspannung aus? Wahrscheinlich. Clare beklagt sich manchmal, dass ich erst locker werde, wenn ich todmüde bin, dabei bin ich in ihrer Nähe meistens entspannt. Dieses ältere Ich wirkt hagerer und erschöpfter, fester und sicherer. Aber bei mir kann er es sich leisten anzugeben: Er hat mich so gründlich durchschaut, dass ich mich ihm in meinem eigenen Interesse nur fügen kann.
Es ist 7.14 Uhr, und wie es aussieht, werde ich nicht mehr schlafen. Ich stehe auf und schalte die Kaffeemaschine ein. Ich ziehe Unterwäsche und Trainingshose an, strecke mich. In letzter Zeit habe ich Probleme mit den Knien, also streife ich Knieschützer über, ziehe Socken an, schnüre meine ausgelatschten Turnschuhe zu, vermutlich die Ursache für die schlechten Knie, und schwöre mir, morgen neue Schuhe zu kaufen. Ich hätte meinen Gast fragen sollen, wie das Wetter draußen ist. Egal, Dezember in Chicago: Da ist schreckliches Wetter de rigueur. Ich ziehe mein uraltes T-Shirt vom Chicago-Film-Festival an, ein schwarzes Sweatshirt, ein dickes orangefarbenes Sweatshirt mit Kapuze, auf dem vorn und hinten ein großes reflektierendes X prangt. Handschuhe und Schlüssel, und schon gehe ich hinaus in den Tag.
Gar nicht übel, für einen frühen Wintertag. Es liegt nur wenig Schnee, und der Wind spielt damit, weht ihn hierhin und dorthin. Auf der Dearborn Street staut sich der Verkehr, ein Konzert aus Motorbrummen, und der Himmel ist grau, hellt sich ins Graue auf.
Ich schnüre meine Schlüssel auf den Schuh und beschließe, am See entlangzulaufen. Langsam renne ich auf der Delaware zur Michigan Avenue in Richtung Osten, nehme die Überführung und laufe dann neben dem Fahrradweg her, der nordwärts am Oak Street Beach entlangführt. Nur hart gesottene Jogger und Radfahrer sind heute unterwegs. Der Lake Michigan ist dunkelgrau gefärbt, es ist Ebbe, man sieht einen feuchten braunen Sandstreifen. Über mir und weit draußen auf dem Wasser kreisen Möwen. Ich bewege mich steif; Kälte ist nicht gut für die Gelenke, und allmählich merke ich, wie eisig es hier am See ist, vermutlich um minus fünf Grad. Ich laufe also etwas langsamer als gewöhnlich, wärme mich auf, schärfe meinen armen Knien und Knöcheln ein, dass ihr Lebenswerk darin besteht, mich bei Bedarf schnell und weit zu tragen. Ich spüre die kalte trockene Luft in der Lunge, spüre mein Herz schneller schlagen, und an der North Avenue fühle ich mich gut und steigere mein Tempo. Laufen bedeutet für mich vieles: Überleben, Ruhe, Euphorie, Einsamkeit. Es ist der Beweis meiner körperlichen Existenz und der Fähigkeit, dass ich meine Bewegung durch den Raum, wenn auch nicht in der Zeit, unter Kontrolle habe, es ist ein Ausdruck der Unterwerfung meines Körpers unter den Willen. Beim Laufen verdränge ich Luft, die Dinge um mich herum kommen und gehen, und der Weg unter meinen Füßen bewegt sich wie ein Filmstreifen.
Ich weiß noch, wie ich als Kind, lange bevor es Videospiele und Internet gab, Filmstreifen in den kleinen Projektor in der Schulbücherei fädelte und sie anschaute, indem ich den Knopf drehte, der die einzelnen Bilder mit einem Piepton weitertransportierte. Ich weiß nicht mehr, wie sie aussahen und was abgebildet war, aber ich erinnere mich noch genau an den Geruch in der Bücherei und wie mich der Piepton jedes Mal erschrecken ließ. Nun fliege ich dahin, ein herrliches Gefühl, als könnte ich direkt in die Luft rennen, und ich bin unbesiegbar, nichts kann mich aufhalten. Nichts, absolut nichts.
Am Abend des gleichen Tages: (Henry ist 28 und 33, Clare 20)
Clare: Wir sind unterwegs zum Konzert der Violent Femmes im Aragon Ballroom. Nach einigem Widerstand seitens Henry, was ich nicht verstehe, weil er die Femmes über alles liebt, fahren wir durch Uptown und suchen einen Parkplatz. Ich drehe Runde um Runde, vorbei am Green Mill, an den Bars, den düster beleuchteten Wohnhäusern und Waschsalons, die aussehen wie Bühnenbilder. Schließlich parke ich in der Argyle, und wir gehen schlotternd den spiegelglatten gerissenen Gehweg entlang. Henry läuft schnell, ich bin immer leicht außer Atem, wenn wir gemeinsam zu Fuß gehen. Mir ist aufgefallen, dass er im Moment versucht, sich meinem Schritt anzupassen. Ich ziehe einen Handschuh aus und schiebe meine Hand in seine
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